ALL OF US STRANGERS - FILMPOSTER

Wenn ihr diesen Artikel mit einer Träne im Auge lest, seid ihr nicht allein. Bereits die Erwähnung des Films „All of Us Strangers“ reicht aus, um einen zum Schluchzen zu bringen. Als würde man Andrew Haighs Meisterwerk das erste Mal ansehen. Und das ist auch gut so, denn der Film arbeitet auf eigenwillige Art und Weise mit chronologischen Abläufen.

Aber vieles bleibt dennoch unklar. Deshalb bin ich noch einmal auf die Geschichte und die Film-Symbolik eingegangen und habe mir zahlreiche Interviews, Filmszenen und mögliche Interpretationen vorgenommen. Das vorliegende Ergebnis ist als (m-)ein Erklärungsansatz zu verstehen – und nicht als DIE EINZIGE Deutungsmöglichkeit.

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Ganz egal, ob es der Kummer, das Trauma oder eine berauschende Mischung aus beidem ist, die einen am meisten berührt. Die Geschichte von „All of Us Strangers“ ist eine ganz besondere Herausforderung, die einem nicht mehr aus dem Kopf gehen wird, da sie unsere Sichtweise auf die eigenen Lebenserfahrungen beeinflusst. Aber auch die Art und Weise, wie man den Film wahrnimmt, kann sich durch verschiedene Faktoren entscheidend verändern.

All of us Strangers
ALL OF US STRANGERS, © 20th Century Studios DE

Zwei Liebesgeschichten in einer

Eines ist sicher: Diese ebenso lose wie bewegende Adaption des japanischen Romans Strangers (von Taichi Yamada) besteht im Wesentlichen aus zwei „Liebesgeschichten“ in einer. Die Hauptfigur ist Adam (Andrew Scott), ein homosexueller Drehbuchautor in den Vierzigern, der allein in einem – nahezu – menschenleeren Londoner Hochhaus lebt. Von seiner Vergangenheit eingeholt, besucht Adam das Haus seiner Kindheit, nur um festzustellen, dass diese Vergangenheit in gewisser Weise zum Leben erwacht ist.

Denn seine Eltern (gespielt von Jamie Bell und Claire Foy) tauchen plötzlich genau so auf, wie sie vor ihrem Tod aussahen, bei dem Adam fast zwölf Jahre alt war. Während er sich mit den Figuren aus der Vergangenheit austauscht und sie über die verlorene Kindheit und Jugend aufklärt, baut Adam auch eine Verbindung mit dem jüngeren Harry (Paul Mescal) auf.

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Dank dieser Verbindung wird Adam nach Jahren der Trauer und der Schuldgefühle wieder gesund. Doch dann stellt sich heraus, dass seine neue Liebschaft auch eine Geistergeschichte ist, ähnlich wie seine erste.

Jamie Bell (links im Bild) und Claire Foy (rechts im Bild) mit Andrew Scott ( mittig, mit dem Rücken zur Kamera) in ALL OF US STRANGERS
Jamie Bell (links im Bild) und Claire Foy (rechts im Bild) mit Andrew Scott ( mittig, mit dem Rücken zur Kamera) in ALL OF US STRANGERS, © 20th Century Studios DE

Worum geht es in All Of Us Strangers?

Adam lebt allein in einem weitgehend verlassenen Londoner Hochhaus, bis eines Abends nach einer Feuerübung ein angetrunkener Mann namens Harry an seine Tür klopft. In seiner Angst vor Nähe weist Adam ihn beim ersten Treffen zurück. Doch das ändert sich, nachdem Adam seine längst verstorbenen Eltern im früheren Elternhaus in Sussex (England) besucht hat.

Während er die Situation akzeptiert, dass seine Eltern plötzlich zurückkehren könnten, beginnt sich auch seine persönliche Sichtweise zu ändern, indem er sich Harrys Annäherungsversuchen gegenüber öffnet. Obwohl Adam den jüngeren Mann anfangs noch auf Distanz hält, haben die beiden Sex. Bei einem erneuten Besuch beschließt Adam, sich vor seiner Mutter zu outen.

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Dazu hatte er vor ihrem Tod nie die Gelegenheit. Sie akzeptiert ihn zwar, aber es ist nicht leicht für sie, da sie noch aus der Zeit stammt, in der AIDS und Schwulsein auf beschämende und menschenverachtende Weise untrennbar miteinander verbunden waren. Nach seiner Heimkehr stellt Adam fest, dass Harry sich auch von seiner Familie entfremdet fühlt – was leider auch heute noch queere Menschen generationsübergreifend verbindet.

Adam wird mit solchen Erfahrungen konfrontiert, als er mit seinem Vater darüber spricht, der sich unter Tränen dafür entschuldigt, Adam nicht geholfen zu haben, als er in der Schule wegen dessen Homosexualität gemobbt wurde. Für Adam ist Intimität schwierig. Doch dank Harrys Zuneigung und der Unterstützung durch seine Eltern findet das Glück zu ihm zurück.

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Und zwar, bis alles aus dem Ruder läuft, als er zusammen mit Harry einen heftigen Ketamin-Absturz in einem Klub erleidet und dabei laut nach seinen Eltern schreit. Als Adam nach einem Blackout im Haus seiner Eltern aufwacht, zieht er seinen alten (inzwischen viel zu kleinen) Schlafanzug an und klettert ins Bett seiner Eltern.

Während sein Vater direkt neben ihnen schläft, tauschen Adam und seine Mutter Erinnerungen über ihr vergangenes „Leben“ und die Geschehnisse nach dem Unfall aus, werden aber bald von Harry unterbrochen, der seltsamerweise plötzlich auftaucht, wo kurz zuvor noch Adams Vater lag. Die Geschichte entspinnt sich weiter, als Adam im Zug aufwacht und Harry hinterherläuft, der sich aber gerade noch aus dem Staub macht.

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Und so wacht Adam wieder auf – diesmal in seiner Wohnung – und Harry erklärt ihm, dass er sie beide nach Hause gebracht hat, nachdem der Ketamin-Trip schiefgegangen war. Verwirrt durch die Ereignisse, erzählt Adam Harry mehr Details zu dem Autounfall, der zum Tod seiner Eltern führte, und verrät, dass sein Vater auf der Stelle starb, während seine Mutter noch einige Tage überlebte.

Dadurch gibt Adam zu, dass seine Eltern in einer seltsamen, übernatürlichen Art und Weise zurückgekehrt sind. Der besorgte Harry willigt ein, mit Adam das Haus seiner Kindheit zu besuchen, um sich selbst davon zu überzeugen. Dort angekommen, kann Harry die Geister durch ein Hintertür Fenster erblicken – und sie ihn auch. Harry weigert sich den Vorfall als real anzuerkennen und flieht. Es kommt zu einem letzten Treffen zwischen Adam und seinen Eltern in einem Restaurant, das sie gemeinsam früher häufig besucht hatten.

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Sie machen Adam klar, dass er loslassen muss, um glücklich weiterleben zu können. Adam wiederum erleichtert ihnen den Übergang, indem er ihnen erzählt, sie wären bei dem Unfall auf der Stelle gestorben. Dabei sagt er ihnen, dass die Sorgen, die sie seit ihrer Rückkehr hatten, unbegründet waren. Zum Abschluss versichern ihm seine Eltern ihre Liebe und entschwinden dann ins Jenseits.

Als ob der Abschied nicht schon schlimm genug wäre, begibt sich Adam danach in Harrys Wohnung, wo er Harrys Leiche zusammen mit der Whiskeyflasche findet, die er in der ersten Nacht vor Adams Tür in der Hand hatte, wo er nicht hineingelassen wurde. Schließlich taucht Harry erneut bei Adam auf und trägt denselben Pullover wie bei ihrer ersten und vielleicht einzigen Begegnung (dazu gleich mehr).

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Gemeinsam gehen sie in Adams Zimmer und kuscheln sich auf seinem Bett aneinander. Zwischen ihnen erstrahlt ein Licht, das immer heller wird, während sie sich in die Dunkelheit zurückziehen, wo immer mehr Sterne funkeln. „The Power of Love“ von Frankie Goes To Hollywood überlagert die Szene und den Abspann wie eine „höhere Macht“, während die ein oder andere Träne unweigerlich über das Gesicht kullert.

Adam (Andrew Scott) schläft auf seiner Couch in ALL OF US STRANGERS
Adam (Andrew Scott) schläft auf seiner Couch in ALL OF US STRANGERS © 20th Century Studios DE

Welche Bedeutung hat die letzte Einstellung?

Als Harry seinen Tod begreift, hätte der Film problemlos mit einer tragischen Note enden können. Gerade in dem Moment, als er feststellt, dass seine Leiche eine Weile lang von niemandem gefunden wurde, auch nicht von seinen Eltern. Das ist eine herzzerreißende Szene, das ist nicht von der Hand zu weisen.

Ich denke, genau das ist das Tragische an seiner Einsamkeit“, erklärt Haigh. „Er war in diesem Zimmer und er war tot und niemand hat ihn gefunden, auch seine Eltern nicht. Sie schienen keinen blassen Schimmer zu haben, wo er ist. Das ist für mich herzzerreißend und sagt viel über den Film aus – dass es bei der Liebe darum geht, dass man sich um jemand anderen Gedanken macht und spürt, wenn er einen braucht.

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Letztendlich wurde Harry von jemandem gefunden, der ihn mehr kennt und liebt, als es irgendjemand anderes jemals getan hätte, einschließlich seiner Familie. Adam und Harry sind nun eine Familie, und ihre Verbindung in den letzten Momenten des Films ist nicht nur körperlich spürbar.

Mit Einbruch der Dunkelheit und einem Kameraschwenk wird das Licht, das zwischen ihnen entsteht, zu einer der zahlreichen Konstellationen am Nachthimmel, zu einer kosmischen Kraft, die sich mit anderen Seelen verbindet, die Trost suchen.

Da ist keine Angst mehr. Es gibt nur noch den Frieden in den Armen des anderen. Durch Adams Liebe konnte Harry den Weg beschreiten, so wie Adam dank Harry sein eigenes Trauma emotional überwinden konnte. Ihre Liebe ist ausreichend und kann sogar die Kluft zwischen Leben und Tod überwinden.

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Sie gibt beiden Kraft und schützt sie vor der inneren Leere. Denn ohne eine solche Verbindung treiben wir einfach in der Dunkelheit umher, als Fremde, verloren in Schmerz und Einsamkeit. Und dabei spielt es keine Rolle, ob Adams Beziehung zu Harry körperlich oder geistig, real oder nur eingebildet war.

© 20th Century Studios DE

War Harry von Anfang an schon tot ?

Nein, das ist nicht der Fall. Aber Harry war mit Sicherheit tot, nachdem wir ihn zum ersten Mal vor Adams Tür getroffen hatten. Von dieser Zurückweisung aufgewühlt, kehrte Harry in seine Wohnung zurück und verlor noch am selben Abend sein Leben. „Ich hatte in dieser Nacht solche Angst. Ich wollte einfach nicht allein sein“, erinnert sich Harrys Geist am Ende, was zu bestätigen scheint, dass sein Tod speziell mit dieser Begegnung zusammenhängt.

Es ist kein Zufall, dass er den gleichen Pullover trägt, den wir an ihm vor Adams Appartement gesehen haben. Außerdem ist die leere Whiskeyflasche neben seiner Leiche genau die, mit der Harry Adam in dieser schicksalhaften Nacht überrascht hat. Darüber hinaus ist der Tod von Harry offensichtlich schon eine Weile her, wenn man sich den Zustand der Leiche so ansieht.

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Es gibt sogar noch weitere Indizien, die dafür sprechen, die aber erst bei einem erneuten Betrachten deutlich werden. Warum haben wir die Wohnung von Harry bis zu diesem letzten Moment nie gesehen? Warum konnte Harry Adams Eltern durch das Fenster erkennen, und, was noch wichtiger ist, wie konnten sie ihn sehen? All diese Elemente ergeben nur dann einen Sinn, wenn man weiß, wie die Geschichte ausgeht. Das musste Haigh im Hinterkopf behalten und wusste, dass Harry bereits zu Beginn des Films stirbt.

Dazu Regisseur Haigh:

Es gibt Dinge, bei denen man beim Schreiben denkt: ‚Okay, wie mache ich es so klar, dass man, wenn man es sich noch einmal ansieht, denkt: ‚Oh ja, ich verstehe, das macht Sinn. Wie wir ihn in der ersten Nacht sehen, als er an der Tür steht und hereingelassen werden will. Die Leute haben dazu unterschiedliche Meinungen, aber für mich ist er zu diesem Zeitpunkt lebendig. Für mich ist das die Nacht, in der er stirbt.

(L-R) Andrew Scott und Paul Mescal in All of us Strangers
(L-R) Andrew Scott und Paul Mescal in einer phantastisch-übersinnlichen Liebesgeschichte © Searchlight Pictures

Ist Adam bereits zu Beginn des Films gestorben ?

Wenn jede Figur, die wir in All of Us Strangers kennen lernen durften, bereits tot ist, ist es dann möglich, dass auch Adam selbst nicht mehr unter den Lebenden weilt? Das seltsam verlassene Hochhaus, in dem er wohnt – für London ungewöhnlich – könnte durchaus die Manifestation der Hölle sein. Das würde die Schlussszene noch ergreifender erscheinen lassen, wenn er und Harry ins Jenseits gelangen, nachdem sie ihre Liebe zueinander gefunden haben.

Das führt natürlich zu der Frage, wie Adam wohl ums Leben gekommen ist. Da es im Drehbuch in erster Linie um das Schamgefühl geht und darum, wie es Adam im Laufe seines Lebens eingeschränkt hat, könnte die verinnerlichte Homophobie eventuell zum Selbstmord geführt haben.

Das wiederum würde auch eine Verbindung zwischen seinem Tod und dem von Harry am Ende durchlebten Schmerz herstellen. Das ist allerdings ziemlich düster, und außerdem ist es reine Spekulation. Die naheliegendste Antwort, die wir bei dieser Interpretation bekommen könnten, hängt vielleicht direkt mit dem Gebäude zusammen.

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Zu Beginn des Films ertönt ein Feueralarm, und es wird suggeriert, dass Adam am selben Tag durch ein Feuer ums Leben gekommen ist und sein Geist zusammen mit Harry in einer Art Vorhölle festsitzt. Das würde auf jeden Fall erklären, warum das Gebäude so gut wie leer ist. Von der seltsamen, unwirklichen Atmosphäre an diesem Ort ganz zu schweigen.

Neulich wurde ich gefragt, ob sie alle gestorben sind, als das Gebäude abbrannte, erinnert sich Haigh. „Sie sagten: ‚Oh, ist das Gebäude am Anfang oder am Ende abgebrannt?‘ Und ich fragte: ‚Das Gebäude ist abgebrannt?‘ Aber das liegt daran, dass es am Anfang einen Feueralarm gibt, und ich glaube, irgendjemand dachte, dass die beiden vielleicht in der Wohnung verbrannt sind, nachdem sie rausgegangen und wieder reingekommen sind, und der Rest ist eine Art Fegefeuer. Dieser Gedanke gefällt mir eigentlich ganz gut. Einige Leute denken, dass Adam vielleicht nicht mehr lebt, und das kann ich nachvollziehen. Der Einstieg ist ein merkwürdiger Bildaufbau, und es gibt Momente, in denen ich glaube, dass er möglicherweise auch gar nicht mehr am Leben ist.“

Meine Interpretation, ist eine andere: Das Gebäude spielt zwar eine Rolle, aber in meinen Augen als Metapher für die „Hölle der Vereinsamung“. Es geht um Isolation und Alleinsein, das ein solches Hochhaus mit sich bringt, trotz seiner vielen Bewohner. Und wie häufig trifft man in einem Sechs- bis Acht-Parteien-Wohnhaus seine Nachbarn nicht? Weshalb sollte das in einem riesigen Wohnblock anders bzw. nicht noch ausgeprägter sein?

Im Endeffekt gibt Haighs Antwort auf Harrys Todeszeitpunkt die Antwort: Wenn Harry an dem Abend, an dem er an Adams Tür klopft, lebendig ist, war es Adam zu dem Zeitpunkt ebenfalls.

(L-R) Paul Mescal und Andrew Scott in All of us Strangers
ALL OF US STRANGERS, © 20th Century Studios DE

Sind die Geister auf irgendeiner Meta-Ebene „existent“?

All of Us Strangers bietet zwei Geistergeschichten auf einmal. Dennoch ist es durchaus denkbar, dass diese übernatürlichen Besuche in Wirklichkeit nur ein Produkt von Adams eigener Fantasie sind.

Schon früh wird im Film gezeigt, dass er ein Drehbuch über die Geschichte seiner Eltern schreiben will, um so eine Verbindung zwischen Vergangenheit und Gegenwart herzustellen. Was wäre also, wenn alles, was wir wahrnehmen, nur als Teil dieses Projekts ausgedacht ist? Tatsächlich bekommen wir Adams Eltern erst zu Gesicht, nachdem er ein neues Dokument geöffnet und die Worte „EXT. SUBURBAN HOUSE 1987“ eintippt, was zu diesem ersten Besuch im Haus seiner Kindheit führt.

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Auch die Geist-Version von Harry, auf die wir nach der Aufzugsszene treffen, wird durch eine Aufnahme von Adam an seinem Laptop eingeführt, auch wenn der Text diesmal nicht zu sehen ist. Doch das erklärt noch lange nicht, warum Adam scheinbar nicht erkennt, dass Harry ein Geist ist, obwohl er instinktiv verstanden hat, dass dies bei seinen Eltern der Fall war.

Unabhängig davon, ob es sich bei diesen Wesen um Geister oder Phantasiefiguren handelt, liegt die Wahrheit, die beide Deutungen miteinander verbindet, darin, dass Adam sie durch seine Einsamkeit und seine verzweifelte Sehnsucht nach Nähe hervorgerufen hat. Hinzu kommt, dass Adam nicht gerade der glaubwürdigste Erzähler ist. Vor allem die Ketamin-Sequenz ist ein Beweis dafür, dass nicht einmal seine subjektive Wahrnehmung auf einer objektiven, realen Grundlage beruht.

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Die Grundlage des Films ist, dass Adam aus seiner Sehnsucht heraus das, was immer es ist, ins Leben ruft“, sagt Haigh. „Es könnte alles in seinem Kopf sein oder man könnte es auch als Geister interpretieren. Ich überlasse es den Zuschauern, wie logisch sie sein wollen oder ob sie tatsächlich möchten, dass diese drei Menschen Geister sind. Oder dass all das nur eine Art Manifestation von Adams Sehnsucht ist. Für mich ist das Letztere mein Verständnis davon – dass alles aus dem Wunsch nach einer Verbindung und einem tieferen Verständnis heraus ins Leben gerufen wurde.“

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Kurz gesagt, der Film ist das, was man aus ihm macht. In dieser Hinsicht drückt die Szene, in der Adam seine Mutter fragt, ob ihre Rückkehr „echt“ ist, das Wesen von Haighs Werk besser aus als der Schluss, obwohl er zu zahlreichen Diskussionen geführt hat. Ihre Antwort, „Fühlt es sich echt an?“, ist alles, was wirklich zählt.

Was auch immer man von Haighs merkwürdigem Spiel mit Zeit und Raum halten mag, so sind es doch die Emotionen, die der Film hervorruft, die noch in vielen Jahren nachhallen werden. Und mit „Emotionen“ sind viele Tränen gemeint.

All of us Strangers
ALL OF US STRANGERS, © 20th Century Studios DE

Warum hat sich Haigh für „The Power of Love“ als Schlusspunkt des Films entschieden?

Aus erzählerischer Sicht macht es Sinn, dass Harry am Ende den Song „The Power of Love“ wünscht. Es ist genau dieses Lied, das aus dem Fernseher kam ( in einer alten „Top Of The Pops“-Sendung), als er zum ersten Mal an Adams Tür klopfte. Harry zitierte sogar den Text, bevor Adam ihn abwies, mit den Worten „I`ll protect you from the hooded Claw, keep vampires from your door.

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Diese „Vampire“ sind natürlich die Dämonen, die Harry plagen, die ihn zu Alkohol und Drogen getrieben haben, bis er daran starb. Es ist kein Zufall, dass Frankie Goes to Hollywood, eine der einzig geouteten schwulen Bands der 80er Jahre, als Untermalung für diesen Moment ausgewählt wurde.

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In All of Us Strangers versucht Adam, das Leid, das er in eben diesem Jahrzehnt ertragen musste, zu verarbeiten und zu akzeptieren, dass die Liebe im wahrsten Sinne des Wortes „Macht“ bedeutet. Das heißt, er muss keine Angst mehr vor den Qualen oder dem Tod durch AIDS haben.

Es ist ein Song, der Adam in den 80er Jahren wahrscheinlich sehr viel bedeutet hätte, genauso wie für Haigh, der gegenüber Empire erzählte: Ich habe das Frankie Goes to Hollywood-Album gekauft. Ich stehe auf die Housemartins, Erasure – das waren alles sehr wichtige Bands für mich, als ich aufwuchs. Das sind alles im Grunde ziemlich melancholische Popsongs, die ich verwendet habe. Mit etwas, das unter der Oberfläche brodelt, was etwas beunruhigender und aufwühlender ist.“

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In diesem Moment bekommt die Scheibe für beide eine neue Bedeutung und heilt die homosexuellen Kinder in ihnen, die sich dieser Liebe nicht würdig gefühlt haben, als sie jung waren. Und wenn man sich den Film noch einmal genau ansieht, erscheint die Musik wie eine Art erklärende Ergänzung zur Filmhandlung.

Jamie Bell ( Mitte) All of Us Strangers
ALL OF US STRANGERS, © 20th Century Studios DE

Worum geht es in Taichi Yamadas Originalroman?

In gewisser Weise erinnert „All of Us Strangers“ an die Roman-Vorlage „Strangers“ des japanischen Autors Taichi Yamada aus dem Jahr 1987. Beide haben eine Reihe ähnlicher Handlungsstränge und -Konzepte, darunter auch Teile der zentralen Wendung des Films. Dennoch werden sie auf ganz unterschiedliche Weise umgesetzt, wie es sich für eine so traumartige Erzählung gehört, bei der Zeit und Raum nur sehr lose zusammenhängen.

Der originale Erzähler ist ebenfalls ein Drehbuchautor Mitte vierzig, der seine Eltern im Alter von 12 Jahren verloren hat. Aber Hideo Harada ist erst seit kurzem geschieden, und schon jetzt ist seine Einsamkeit eine ganz andere als die, die Adam in Haighs „Remake“ so lang ertragen hat.

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Eines Abends taucht eine Frau, die im gleichen Gebäude wohnt, in Hideo’s Wohnung auf, und genau wie Harry wird auch sie abgewiesen. Nach dieser Begegnung kehrt Hideo in sein altes Stadtviertel zurück, wo er einem Paar begegnet, das seinen Eltern, die er kurz vor ihrem Tod verlassen hat, verblüffend ähnlich sieht. Immer wieder trifft er auf diese Pseudo-Eltern, die ihn wie ein Familienmitglied behandeln und Hideo trösten, der verzweifelt versucht, die verpasste Kindheit nachzuholen.

Gleichzeitig entsteht eine Beziehung zwischen Hideo und Kei, der Bewohnerin, die zuvor an seine Tür geklopft hat. Durch diese Verbindung und vor allem durch Keis Überlegungen wird deutlich, dass Hideo jedes Mal, wenn er das Paar besucht, die seinen Eltern ähneln, an Lebenskraft verliert.

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Vielleicht ist es aber auch nur eine Veränderung in seinem Leben, die ihn so schnell altern lässt? Eine finale Wendung, die Kei betrifft, verschiebt die Handlung in Richtung Horror. Anders als bei Obayashi Nobuhikos vorangegangener Verfilmung (1988) mit dem Titel The Discarnates vermeidet Haigh klugerweise dieses Klischee.

Vielmehr stellt sich heraus, dass die neue Kei, alias Harry, die ganze Zeit über tot gewesen ist. Das spricht vielmehr für die queere Romanze und den Herzschmerz, die in All of Us Strangers den Vorrang vor übernatürlichen Gruselgeschichten haben. Für Haigh ist das die persönlichere Story.

© American Film Institut

Anm. der Redaktion: Die Aussagen von Andrew Haighs sind aus diversen Interviews im Rahmen seiner Film Promotion zu „All Of Us Strangers“ entnommen worden.

Quellen: digitalspy , Deadline , theplaylist, thescotsman, thatshelf, theskinny, time.com , rti, American Film Institute, krcw.com