SENTIMENTAL VALUE

Inhalt: Nora und Agnes verbindet eine komplexe Beziehung zu ihrem Vater, der seine Arbeit stets über die Familie stellte. Nun steht Gustav nach Jahren der Funkstille plötzlich wieder vor der Tür – mit einem charmanten Grinsen und dem emotionalen Gepäck eines halben Lebens. Augenblicklich geraten alte Familiendynamiken ins Rollen. Und nach und nach wird deutlich, dass sich Vater und Töchter ähnlicher sind, als sie glaubten. Vielleicht ist es doch nicht zu spät für einen Neuanfang?

© Plaion Pictures

Vaterfigur, Kunst und alte Wunden

Der norwegische Filmemacher Joachim Trier kehrt mit einem weiteren skandinavischen Highlight zurück. Während seine vielgelobte Oslo-Trilogie – Reprise, Oslo, 31. August und Der schlimmste Mensch der Welt – junge Erwachsene auf ihrem existenziellen Weg der Selbstfindung begleitete, erweitert Trier mit Sentimental Value seinen Blickwinkel. Das Ergebnis ist ein behutsames und doch schmerzlich -präzises Porträt von Schwesternschaft, familiärer Wunden, Vergebung und der Frage, ob Kunst wirklich heilen kann. Im Mittelpunkt steht eine zerbrochene Familie, die versucht, durch das Kino eine gemeinsame Basis zu finden.

Trier erzählt diese Geschichte mit viel Feingefühl für fragile Dynamiken und emotionale Widerstände. Wir lernen zuerst die beiden Schwestern Nora und Agnes kennen, die durch den Tod ihrer Mutter noch enger zusammengewachsen sind. Nora, gespielt von Renate Reinsve, ist eine supertalentierte Theaterdarstellerin, die mit Selbstzweifeln kämpft, während Agnes, gespielt von Inga Ibsdotter Lilleaas, als Historikerin ein ziemlich geregeltes Leben führt. Das fragile Gleichgewicht wird zerstört, als ihr entfremdeter Vater Gustav wieder auftaucht. Der von Stellan Skarsgård gespielte Gustav ist ein ebenso berühmter wie narzisstischer Filmemacher, der Nora eine Hauptrolle in seinem neuen Film anbietet.

Der Stoff: der Suizid ihrer eigenen Mutter. Nach Jahren emotionaler Gleichgültigkeit ist das Angebot jedoch keine Geste der Versöhnung, sondern ein weiterer Schritt künstlerischer Vereinnahmung. Noras Ablehnung der Rolle ist eine der eindringlichsten Filmszenen. In einem intensiven Wortwechsel trifft Skarsgårds mildes, fast herablassendes Lächeln auf Reinsves unterdrückte Wut. Kleine Blicke und minimale Gesten erzählen von jahrzehntelanger emotionaler Stagnation.

SENTIMENTAL VALUE
Sentimental Value © Plaion Pictures

Film im Film: Wenn Realität rekonstruiert wird

Skarsgård brilliert in einer Rolle, die gleichermaßen von narzisstischem Charme, trockenem Humor und tief sitzendem Schmerz geprägt ist. Dass Gustav seinem Enkel DVDs von „Die Klavierspielerin“ und „Irreversible“ schenkt, ist mehr als nur ein makabrer Scherz, sondern ein pointierter Kommentar zu seiner Auffassung von Kunst und Intimität. Nach Noras Absage besetzt Gustav die junge US-amerikanische Schauspielerin Rachel Kemp, gespielt von Elle Fanning, für die Rolle. Hier eröffnet „Sentimental Value“ eine filmische Metaebene.

Zusammen mit Co-Autor Eskil Vogt sinniert Trier über den Zusammenhang zwischen Realität, Erinnerung und künstlerischer Nacherzählung. Insbesondere die Szene in der Rachel einen emotionalen Monolog hält, der ursprünglich für Nora bestimmt war, ist besonders gelungen. Trotz der spieltechnischen Brillanz fehlt es ihr an der Authentizität, die nur durch eigene Erfahrungen möglich ist. Für Nora ist es ein qualvoller Moment: Sie muss zusehen, wie eine Fremde eine Version ihres inneren Schmerzes darstellt, den sie selbst kaum ertragen kann.

Kasper Tuxens Kameraarbeit verleiht dem Film eine gewisse Unfertigkeit, die sich problemlos in Gustavs künstlerisches Universum einfügt. Gleichzeitig wird Triers Vorliebe für Sentimentalität stellenweise ein bisschen zu dick aufgetragen. In diesen Augenblicken übernimmt der Idealismus in Sachen Kunst die Oberhand, was zu leicht wehmütigen Abwegen führt.

Fazit: Sentimental Value ist ein eindringliches, zutiefst menschliches Drama über familiäre Zerwürfnisse und die ambivalente Kraft von Kunst. Der Film bietet Renate Reinsve und Stellan Skarsgård eine stimmungsvolle Bühne und beweist erneut, dass Joachim Trier einer der gefühlsvollsten Chronisten emotionaler Innenwelten des europäischen Kinos ist. Ein stilles, kraftvolles Werk, das seine Rolle als ernstzunehmender Oscar-Favorit im Rennen um den besten internationalen Film mehr als rechtfertigt.

Film Bewertung 8 / 10