Genre: Stop-Motion / Musical | Produktion: USA, MEX, FRA 2022 | Laufzeit: ca. 116 Minuten
Regie: Guillermo del Toro | Mit: David Bradley, Gregory Mann, ewan Mc Gregor, Ron Perlman, Burn Gorman, Tilda Swinton u.a
Inhalt: Zehn Jahre nach dem Tod seines Sohnes schnitzt der italienische Bildhauer Geppetto (David Bradley) voller Trauer einen neuen Jungen aus einem Baum. Pinocchio (Gregory Mann) wird in eine Welt geprägt von Faschismus und Ausbeutung eingeführt und dazu aufgefordert, das zu tun, was man ihm sagt – doch damit ist er nicht ganz einverstanden.
Zu Beginn von Guillermo del Toros Pinocchio blickt der kleine Holzjunge – eine knorrige, krumme, klapprige Gestalt, die zwar noch nicht lange auf der Welt ist, aber schon durch ihr bloßes Aussehen und ihr widerspenstiges Verhalten Aufsehen erregt – in einer Kirche auf eine riesige Holzskulptur des gekreuzigten Christus. „Warum lieben sie ihn und nicht mich?“ fragt Pinocchio seinen Vater angesichts der abweisenden Einheimischen. „Sie singen für ihn.“ Dein Herz ist gerührt, deine Seele bewegt. Das ist nicht das, was man von Pinocchio gewohnt ist.
„Rot“ ist ein Pixar – Monster, dass man einfach lieben muss
Niemand sonst hat den Roman von Carlo Collodi aus dem Jahr 1883 so gut umgesetzt wie Guillermo del Toro. Diese beunruhigende, beängstigende, auf Konfrontationskurs gehende kleine Szene ist ein Mikrokosmos dieser Stop-Motion-Odyssee, die viele ihrer Themen zusammenführt. Die Verwirrung (und Traurigkeit) eines Kindes, die Mächte, die es aufgrund seiner Einzigartigkeit ablehnen, der Kampf eines Vaters, seinen Sohn – und sich selbst – glücklich zu machen. Del Toro hat seinen Namen aus gutem Grund auf den Titel gepappt – nicht um sich zu rühmen, sondern als Warnung. Das ist kein niedlicher Film. Es ist mehr „The Devil’s Backbone“ als Disney, Pinocchio auf dem Weg zu „Pan’s Labyrinth“.
Pinocchio besticht durch eine vielseitige Ästhetik und vergisst dabei die Emotionen
Man kennt ja die Geschichte: Der Bengel macht Blödsinn, erzählt Lügen und muss lernen, sich zu benehmen. Aber so läuft das hier nicht ganz. Vielmehr handelt es sich um eine Ode an den Ungehorsam, angesiedelt in den späten 1920er Jahren, zu Beginn von Mussolinis Herrschaft, in der sich, wie del Toro sagte, alle Italiener wie Marionetten verhielten. Und es ist nicht nur eine Allegorie. Auch Mussolini kommt in diesem Film vor, der seine Themen – Autoritäten, Sterblichkeit, Tod, Verlust – nicht verheimlicht. Er ist also ein echter del Toro-Film.
Der Film ist ein Schrei nach Unabhängigkeit
Beim Drehbuch, das del Toro gemeinsam mit Patrick McHale (Adventure Time) geschrieben hat und in Zusammenarbeit mit dem Stop-Motion-Superstar Mark Gustafson als Regisseur fungiert, wird es schnell ziemlich düster. Geppetto (David Bradley) und sein leiblicher Sohn Carlo (Gregory Mann) sind überglücklich, bis Carlo plötzlich auf tragische und brutale Weise stirbt.
Onward – Keine Halben Sachen | Film Kritik
Vor lauter Trauer verliert Geppetto die Orientierung und bricht schließlich im Suff an Carlos Grab zusammen und schwört sich, ihn an Ort und Stelle wiederzubeleben, indem er mitten in der Nacht einen Holzjungen (ebenfalls Mann) aus einem Baum schnitzt. Pinocchio, dem das Leben geschenkt wurde, bahnt sich seinen Weg durch die Welt, wobei er sich mit Ausbeutern und Faschisten herumschlägt, die ihm die Kanten glattbügeln wollen oder, was noch schlimmer ist, ihn zum Singen patriotischer Botschaften zwingen.
Der Film ist ein Schrei nach Unabhängigkeit, und die Filmästhetik folgt diesem Ruf. In Anlehnung an Gris Grimlys Darstellung der Gestalt ähnelt del Toros Pinocchio dem Aussehen einer solchen Kreatur, vor allem einer, die im Vollrausch erschaffen wurde. Er ist ein missratenes Baum-Monster. Nägel ragen wahllos aus ihm heraus. Und er hat nur ein Ohr.
Guillermo del Toros Perspektive zieht sich durch jedes Bild
Auch andere Figuren sind sehr eigenwillig. Die Blaue Fee ist jetzt eher ein gottgleicher Wasserspeier, ein wohlwollender Waldgeist, gespielt von Tilda Swinton. Sie spricht auch ihre weniger sympathische Schwester, den Tod, der Pinocchio ab und zu besucht.
AVATAR: THE WAY OF WATER ist ein kosmisches, exzentrisches und gefühlvolles Meeresepos
Beide haben Flügel, die mit blinzelnden Augen gespickt sind; beide sind schaurige Geschöpfe, die den Film in eine metaphysische Sphäre führen. Das gewaltige Seeungeheuer ist einfach großartig, ein tolles Lovecraft’sches Ungetüm. Auch die Feinheiten haben es in sich und animieren zum Schwärmen. Die eingefallenen Augen eines Priesters und seine mürrischen Wangenknochen. Sonnenstrahlen, die sich ihren Weg durch das Dach von Geppettos Haus auf dessen Dachboden bahnen. Die Rippen eines Hundes. Das ist alles ein bisschen schräg – so wie der Film selbst.
Mrs. Harris und ein Kleid von Dior ist ein Film zum Füße hochlegen
Möglicherweise ergibt es durchaus Sinn, dass diese Huldigung der Unvollkommenheit nicht perfekt ist. Es gibt Songs, die zwar gut sind, sich aber ein Stück weit deplatziert anfühlen. Außerdem ist der Film nicht immer so emotional fesselnd, wie er es vielleicht gerne sein würde. Aber am Ende gelangt er doch ans Ziel. Und was für ein rührendes Ende es ist: eine zutiefst menschlich anmutende, sehr erwachsene Abweichung von Collodis Vorlage.
Womit alles auf den Punkt gebracht ist. Del Toro lässt sich nie von der Romanvorlage unterkriegen, bleibt aber ihrem Wesen treu: ihrer Verspieltheit, ihrem Zynismus, ihrer Anarchie – und ihrem Herzen. Und hier trägt Guillermo sein eigenes Herz – und seine Seele – sichtbar vor sich her. Es ist die bisher philosophischste und existenziellste Pinocchio-Verfilmung. Das sitzt einem in den Knochen.
Nowhere Special ist ein Werk, das mehr Aufmerksamkeit verdient hat
Fazit: Guillermo del Toros Perspektive zieht sich durch jedes Bild dieser einzigartigen Neuverfilmung, die sich nicht scheut, beunruhigende Themen anzusprechen. Eine aufrichtige, gefühlvolle Erkundung dessen, was es bedeutet, ein Mensch zu sein.
Film Bewertung: 8 / 10
Trackbacks/Pingbacks