Inhalt: Im Viktorianischen England setzt der Wissenschaftler Dr. Godwin Baxter (Willem Dafoe) das Gehirn eines Babys in eine Leiche ein und erschafft so Bella (Emma Stone). Diese gewinnt schnell die Zuneigung von Max McCandles (Ramy Youssef) – und Duncan Wedderburn (Mark Ruffalo).
Film Kritik
Der ursprüngliche Roman von Alasdair Gray aus dem Jahr 1992, auf dem Poor Things basiert – oder, um den vollen, angemessen aberwitzigen Titel zu verwenden, Poor Things: Episodes From The Early Life Of Archibald McCandless M.D., Scottish Public Health Officer – wurde nie ernsthaft als offensichtliches Filmfutter in Betracht gezogen, bis Regisseur Yorgos Lanthimos auftauchte.
Es ist ein kurioser, mühsamer Wälzer, der von mindestens vier unterschiedlichen Erzählern vorgetragen wird und eine besondere Interpretation der Frankenstein-Mythologie schildert. Es geht um das Erwachsenwerden von Bella Baxter, einer jungen Frau, die durch das Gehirn ihres eigenen Babys zum Leben erweckt wird und im viktorianischen Glasgow einiges über Feminismus, soziale Gerechtigkeit und sexuelle Gepflogenheiten lernt.
Lanthimos passt zu Grays Wahrnehmung wie die berühmte Faust aufs Auge. Der vielleicht beste Absurdist des Kinos. Der griechische Filmemacher hat es schon immer verstanden einen schmalen Grat zwischen lächerlicher, düsterer Komödie und emotionalen und politischen Wahrheiten zu beschreiten. Angefangen von The Killing Of A Sacred Deer bis zu The Favourite
Der Meister des Absurden ist zurück
Gemeinsam mit seinem Drehbuchautor Tony McNamara – Co-Autor von „The Favourite“ und Autor des ähnlich wenig historischen Romans „The Great“ – entstand ein surreales Steampunk-Spektakel. Eine kabarettistisch angehauchte Auseinandersetzung mit Geschlechterdynamiken und das vielleicht amüsanteste Werk in Lanthimos‘ bisheriger Laufbahn.
Es ist noch viel lustiger, vulgärer und schriller als Grays Roman, notwendigerweise an einigen Stellen gekürzt, an anderen dafür aufgemotzt. Der Schlussteil des Buches, in dem Bella die Rolle der Erzählerin übernimmt und alles, was davor geschah, völlig auf den Kopf gestellt wird, ist radikal gestrichen worden.
Stattdessen verlagern sich der Blickwinkel und der Fokus vom sanftmütigen Archibald McCandles (in Max McCandles umbenannt) auf Bella. Die Themen Patriarchat und weibliche Selbstbestimmung werden damit deutlicher in den Vordergrund gestellt. Dadurch rückt man Bella / Emma Stone mehr in den Mittelpunkt.
Es ist ein nie vorhersehbarer Spaß, Emma Stone zuzuschauen
Und Emma Stone nutzt das Rampenlicht gnadenlos aus. Offensichtlich beflügelt von ihrer Zusammenarbeit bei The Favourite, ruft sie ihre vielleicht beste, ungewöhnlichste und mutigste Performance ab. Zu Beginn ist sie im wahrsten Sinne des Wortes ein Baby. Eine schauspielerische Aufgabe, die sich in den falschen Händen wie eine Theaterschulaufführung der 5. Klasse anfühlen könnte.
Doch mit Stone am Lenkrad wirkt das Ganze seltsam, präzise und klug, voller Tiefe und Weisheit. Bellas Entwicklung verläuft sowohl schleichend wie rasant: Sie beginnt zunächst Nonverbal, baut dann langsam einen Wortschatz auf und beendet den Film als sprachgewandte Allrounderin voller Neugierde und Unbedachtheit, ohne Filter.
Film Kritik „Rebel Moon – Teil 1: Kind des Feuers“
Es ist ein nie vorhersehbarer Spaß, ihr bei der Arbeit zuzuschauen. Offen gesagt, wäre es überraschend, sollte sie dafür keinen Oscar (trotz namhafter Konkurenz) mit nach Hause nehmen. Sie spielt eine bewusst alberne Rolle, für die viel Nacktheit erforderlich ist – im wahrsten Sinne des Wortes ein „Erwachsenwerden“. Allerdings ist Stone für die intuitiven, dezenten Momente ebenso gut wie für die groben, schamlosen.
So wie Bella lernt, ihren Körper als Instrument zu nutzen, beherrscht Stone ihn mit chirurgischer Sorgfalt, wenn es darum geht, ihre Erleuchtungsreise darzustellen.
Mark Ruffalo als selbstgefälliger Möchtegern-Sexgott
Diese Reise ist von Typen geprägt, die anscheinend unterschiedlichste Männlichkeitsformen verkörpern: Da gibt es ihren Ersatz-Vater Godwin, gespielt von einem exzellenten Willem Dafoe, den Bella als „Gott“ bezeichnet. Dann gibt es ihren liebevollen zukünftigen Ehemann Max (Ramy Youssef). Und schließlich ist da noch Duncan Wedderburn, ihr erster Liebhaber, gespielt von Mark Ruffalo.
Sein Duncan ist der überhebliche Möchtegern-Sexgott-Schurke schlechthin. Ruffalo, gibt so wahnsinnig weise Sprüche von sich wie „Auf die Gefahr hin, unbescheiden zu sein: Du wurdest gerade dreimal vom Allerbesten gefickt„, und das mit einem grotesken englischen Akzent, hochgezogener Augenbraue und einem eleganten Zupfen des Schnurrbartes. Einfach nur Großartig!
FILM KRITIK „LEAVE THE WORLD BEHIND“
Im Rahmen von Bellas und Duncans protziger Reise – die darin besteht, die Welt zu erkunden, Kuchen auszukotzen und gegenseitig übereinander herzufallen – verändern sich die prächtigen Bilder des irischen Kameramanns Robbie Ryan. Der Übergang vom gothicartigen Schwarz-Weiß hin zu einem surrealen, überladenen Farbspektrum, entwickelt sich parallel zu Bellas eigenen sozialen und kulturellen Erfahrungen.
Diese Perspektive ist eine alt-viktorianische Traumlandschaft mit einem psychedelischen Auf und Ab. Der bizarre Grundton des Films wird noch verstärkt durch Jerskin Fendrix‘ herrlich abgedrehte, disharmonische Filmmusik. Das klingt, als ob Mica Levi (Under The Skin-Tödliche Verführung) den Soundtrack zu einer Serie der öffentlich-rechtlichen Sender geschrieben hätte.
Surreales Farbspektrum, Ziegen und disharmonische Filmmusik
Der Gesamteffekt hinterlässt ein schwindelerregendes filmisches Rauschgefühl: als hätte man zu viele Pastel de Natas (Für jeden Lissabon Besucher ein Muss) mit Halluzinogenen verdrückt. Und trotzdem hat Lanthimos wieder einen absurden Weg eingeschlagen, der mit Tiefgang punktet.
Letztendlich ermöglichen er, McNamara und Stone Bella ein selbstbestimmtes Leben. Und damit das wohl bizarrste „Happy End“ der Kinogeschichte. Auch eine Ziege ist beteiligt. Nicht gerade typisches Kino-Futter – doch genau das erwarten wir, wenn der Regisseur Georgos Lanthimos heißt.
Fazit: Völlig durchgeknallt, absurd und grob versaut. Es bietet die sprichwörtliche Filmkunst und ist dazu ein echtes Unikat: Poor Things ist so gut, wie es Yorgos Lanthimos und Emma Stone bisher noch nie waren.
Film Bewertung 9 / 10