Berlinale: Sektion Wettbewerb – Weltpremiere
Inhalt: Eva arbeitet als Gefängniswärterin. Sie begegnet allen Häftlingen mit Respekt, wünscht Ihnen immer einen guten Morgen, hilft bei Schulaufgaben oder bietet Meditationsübungen an. Doch als eines Tages neue Häftlinge zu Ihnen ins Gefängnis überführt werden, scheint Eva einen von Ihnen zu erkennen. Schnell findet sie heraus, dass dieser im Hochsicherheitstrakt des Gefängnisses untergebracht wurde. Sie lässt sich versetzen. Von nun an ist die Stimmung an ihrem neuen Arbeitsplatz nicht mehr so heiter.
Film Kritik
Dieses schwedische Gefängnisdrama von Gustav Möller wirkt aufgrund des Bildformats besonders beklemmend. Dennoch wirkt das 4: 3- Format anfangs etwas freundlicher als im weiteren Verlauf der Handlung. Flügel 5, Evas gewohnter Arbeitsbereich, ist zwar beengt, aber lichtdurchflutet und offen.
Während die Atmosphäre im Hochsicherheitstrakt mit seinem gelblichen Neonlicht, den niedrigen Decken und den stets geschlossenen Zellentüren viel abweisender wirkt. Dieser Kontrast spiegelt sich auch schnell in der Stimmung des Wachpersonals wider. Nicht jeder ist für den Hochsicherheitstrakt geeignet, wie Evas neuer Vorgesetzter feststellt.
Die Wärterin baut den Konflikt zwischen dem Insassen 017, der eigentlich Mikkel heißt, und der Wärterin Eva kontinuierlich auf. Während der Zuschauer schnell merkt, dass Eva den Neuankömmling zu kennen scheint, wird die Auflösung des Geheimnisses bis zum Ende des 95-minütigen Dramas hinausgezögert. Während dieser Laufzeit werden viele Vermutungen geäußert.
Mit einer schnelleren Erklärung für Evas Verhalten hätte man nicht nur Spannung, sondern auch mehr Verständnis für ihre Figur erzeugen können. Eva wird stellenweise als sadistische Wärterin dargestellt, die dem Insassen 017 aus noch ungeklärten Gründen gerne ins Essen spuckt, ihm Zigaretten verweigert oder ihn des Schmuggels bezichtigt.
Was ist richtig, was ist Falsch?
Sie scheint ihre eigene Wut auf 017 zu projizieren. Woher diese kommt, will Möller so schnell nicht beantworten. Das macht die ersten 60 Minuten kurzweilig, weil sich die Spannung aufbaut, doch spätestens danach zieht sich der Film ein wenig. Die Handlung hätte man gut in 80 Minuten verpacken können, ohne den Zuschauer mit immer anderen Quälereien Evas zu langweilen.
Man beginnt sogar, Mikkel oder auch 017 ungeachtet seiner Taten, zu bemitleiden. Bis die befreiende Wendung dem ganzen Treiben ein Ende setzt. Stellenweise erinnert Möllers Film an das Thriller Drama „Das Experiment“ von 2001. Ähnlich wie in der damaligen Gefängniswelt scheint auch Eva ihre Machtposition als Wärterin auszunutzen.
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Bis ein Vorfall ihr klar macht, dass sie die Vergangenheit nicht ändern kann und dass nicht jeder von ihr gerettet werden will. Besonders spannend wird die Handlung, wenn sich die Machtpositionen verschieben und Mikkel etwas gegen Eva in Händen hat, das sie dazu verleitet, genau das zu tun, was der Gefangene von ihr verlangt.
Die Situationen, in die Eva gerät, und die ganze Bandbreite, die sich daraus entwickelt, wären durchaus spannend zu verfolgen gewesen, wenn man diese Aspekte von Evas Vergangenheit früher gewusst hätte. Das ganze Dilemma wird aber erst am Ende deutlich und lässt den Zuschauer mit der Frage zurück: Was hättest du selbst getan und gibt es ein richtig und ein falsch?
Ein spannendes Gedankenexperiment an dem Möller die Zuschauer erst am Ende teilhaben lässt
Spannend ist auch, dass Möller die Handlung hauptsächlich hinter den Mauern des Gefängnisses ablaufen lässt, wodurch man das Gefühl bekommt, selbst in diesem Gefängnis zu sitzen. Es gibt nichts anderes, außer vielleicht den gesicherten Innenhof mit einem Stück Himmel. So erleben wir als Zuschauer am Ende auch den befreienden Blick auf ein Waldstück, das sich endlos zu erstrecken scheint.
Auch die Frage, die Mikkels Mutter ihm stellt, was er nach seiner Entlassung machen will, ist interessant. Der junge Mann scheint sich keine Gedanken über die Zeit nach 16 Jahren Gefängnis gemacht zu haben. Die Frage scheint ihn zu irritieren. Was kommt danach? Gibt es ein „nach dem Gefängnis“?
Ein spannendes Gedankenexperiment, bei dem Möller den Zuschauer erst zum Ende hin wirklich teilhaben lässt. Vorher scheint der Film vor allem ein Machtgefälle aufzuzeigen, von dem der Zuschauer nicht immer die positive Seite zu sehen bekommt. Eine sehr realistische Darstellung dessen, was sich hinter den Mauern verbirgt, die wir als Zuschauer wahrscheinlich und hoffentlich so noch nicht wirklich zu Gesicht bekommen haben.
Fazit: Der Film versucht, das Innenleben eines Gefängnisses näher zu bringen und gleichzeitig Empathie für alle, die dort leben und arbeiten, zu schaffen. Es ist nur schade, dass der Zuschauer bei den meisten Handlungen außen vor gelassen wird und keinen Zugang zu den Charakteren erhält. Als Zuschauer bleiben wir Zaungäste eines brillant gespielten, schmerzhaften Dramas.
Film Bewertung 7 / 10