Gernre: Drama | Produktion: USA 2022 | Laufzeit: ca. 136 Minuten | Regie: Chinonye Chukwu
Mit: Danielle Deadwyler, Haley Bennett, Jalyn Hall, Frankie Faison, Haley Bennett und Whoopi Goldberg u.a
Inhalt: Bei einem Besuch im Mississippi der Jim-Crow-Ära flirtet der schwarze Teenager Emmett Till (Jalyn Hall) arglos mit der weißen Ladenbesitzerin Carolyn Bryant (Haley Bennett). Wenig später wird er brutal ermordet. Für Emmetts Mutter Mamie (Danielle Deadwyler) ist der Lynchmord an ihm der Auslöser für einen historischen Kreuzzug für Gerechtigkeit.
Am 28. August 1955 wurde Emmett Louis Till, ein 14-jähriger Afroamerikaner, in Mississippi entführt, gefoltert und gelyncht, da er angeblich eine weiße Frau in einem Lebensmittelgeschäft belästigt hatte. Seine verstümmelte und unkenntlich gemachte Leiche wurde drei Tage später im Tallahatchie River gefunden.
Es ist das Verdienst der Filmemacherin Chinonye Chukwu (Clemency), dass Till nicht versucht, das abscheuliche Verbrechen darzustellen und damit zu sensationsgeilen Mitteln zu greifen.
Menschliche Dinge schafft es leider nicht seine Ideen vollständig auszubauen
Stattdessen beleuchtet Chukwu die Geschichte anhand des Kampfes für Gerechtigkeit von Emmetts Mutter Mamie. Es ist ein kluger Schachzug, Hoffnung in einer solchen Tragödie zu finden, ohne sie zu verharmlosen, und gleichzeitig die Geschichte auf einer übergeordneten Ebene der Bürgerrechtsbewegung anzusiedeln.
Eine, in der Danielle Deadwyler in der Hauptrolle ein subtiles, aber auch eindrucksvolles Ausrufezeichen setzt. Die Darstellerin zeigt, dass weniger mehr ist, und macht aus einem langsam erzählten Historiendrama etwas, das gleichermaßen fesselnd und ergreifend ist.
Im Süden der USA gelten andere Regeln
Der Film schildert auf effiziente Weise die liebevolle Beziehung zwischen Mutter und Sohn. Exemplarisch hierfür ist gleich die Eröffnungsszene, als die beiden bei einer Autofahrt ausgelassenen den Doo-Wop-Klassiker „Sincerely“ von den Moonglows singen.
Emmett (Jalyn Hall) ist der geborene Entertainer. Er hat ein Händchen für schicke Anzüge und ein Talent dafür, die Familie durch das Mitsingen von Werbespots zu unterhalten. Sein Sinn für Effekthascherei beunruhigt Mamie. Als der Junge seine Reise vorbereitet, ermahnt sie ihn: „Sei unauffällig“, und erinnert ihn daran, dass im Süden andere Regeln gelten.
Holy Spider ist ein gleichermaßen irritierender wie faszinierender Film
Als der Film den Schauplatz nach Mississippi verlegt („Ein guter Ort, um seinen Jungen großzuziehen“ steht auf einem Schild, das vor Ironie geradezu trieft), malt Chukwu eine Welt, in der Rassismus und Ungleichheit tief verwurzelt sind. Schwarze Fahrgäste begeben sich pflichtbewusst in den hinteren Teil eines Zuges, wenn dieser sich der Mason-Dixon-Grenzlinie (trennt zwei Staaten im Süden der USA) nähert. Die einzige Person, die die Regeln nicht versteht, ist Emmett.
Eine kecke Anmache und ein Pfiff in Richtung der weißen Ladenbesitzerin Carolyn Bryant (Haley Bennett) erscheinen ihm verspielt, doch alle um ihn herum ahnen die Konsequenzen. Der anschließende Lynchmord wird in einer extremen Totalen eines Gebäudes gezeigt, die lediglich durch undefinierbare Laute aus Gewalt und Geschrei unterbrochen wird. Das ist umso eindringlicher.
Fesselnde Studie über die politische Entwicklung einer gebrochenen Frau
Die Gewalt muss Chukwu in vielerlei Hinsicht nicht zeigen, denn Deadwyler vermittelt eine Welt des Schmerzes intensiver, als es technische Prothesen und ein Kampf-Koordinator je könnten. Ob es Mamies erschütternde Reaktion auf die Nachricht vom Tod ihres Sohnes ist (verstärkt durch einen langsamen, fast unmerklichen Kamerazoom) oder ihre entsetzlichen Schreie, als sie die Holzkiste mit Emmetts Leiche sieht – Deadwyler vermittelt die tiefsten Gefühlszustände, ohne jemals theatralisch zu wirken.
Filme, auf die man sich 2023 freuen kann
Dreh- und Angelpunkt des Films ist eine geschickt inszenierte Passage, in der Mamie darauf besteht, die Leiche ihres Sohnes zu betrachten, die allerdings durch einen Tisch vor der Kamera verdeckt ist. Erst als Mamie darum bittet, mit ihrem Jungen allein zu sein, ändert sich der Bildausschnitt und gibt den Blick auf Emmetts entstellten, nahezu unkenntlichen Körper frei. Es ist nicht nur die Kamera, die sich verlagert. Es ist auch Mamies Überzeugung, das Richtige für ihren Sohn zu tun.
Hier beginnt der spannendste Teil des Films, der zu einem großen Teil auf Mamies Entschlossenheit beruht, der Welt zu zeigen, was sie gesehen hat. So ordnet sie nicht nur einen offenen Sarg für die Beerdigung an („Dieser Geruch ist der Körper meines Sohnes, der nach Rassenhass stinkt. Jetzt will ich, dass Amerika Zeuge wird“), sondern sie lädt auch einen schwarzen Fotografen ein, Bilder zu machen, was das 50er-Jahre-Äquivalent zur (viralen-) Wirkung des heutigen Internet darstellt.
Das letzte Drittel verwandelt sich in ein Gerichtsdrama
Dies ist eine der herausragenden Stärken des Films: die Fähigkeit, Geschichte ins Hier und Jetzt zu übertragen, indem Persönliches und Politisches kraftvoll miteinander verknüpft werden. Unterstützt von einer effektiven, vordergründigen Filmmusik von Abel Korzeniowski, fehlt es Chukwus Inszenierung zwar an Blitz und Donner, dafür ist sie handwerklich und filmisch äußerst clever. Das letzte Drittel wird zu einem Gerichtsdrama, das sich hauptsächlich auf Deadwylers Gesichtsausdruck entfaltet.
Holy Spider ist ein gleichermaßen irritierender wie faszinierender Film
Es ist vielleicht der größte Trumpf des Films, dass sie mit einem Blick mehr ausdrücken kann, als andere mit unzähligen Dialogen. Sobald es an der Zeit ist, in den Zeugenstand zu treten, hebt ihre ruhige, würdevolle Präsenz Till auf eine ganz neue Ebene.
Fazit: Chinonye Chukwus zurückhaltender Ansatz ersetzt das dramaturgische Feuerwerk durch eine fesselnde, sich langsam entfaltende Studie über die politische Entwicklung einer gebrochenen Frau. Sie wird von der Hauptdarstellerin Danielle Deadwyler grandios dargestellt, die aus Till nicht nur einen guten, sondern auch einen sehenswerten Film macht.
Film Bewertung: 8 / 10