Erscheinungsdatum: 13.03.2020 (USA)/ 01.10.2020 (Deutschland)
Laufzeit: 101 Minuten
Regie/Drehbuch: Eliza Hittman


Großes kleines Drama

„Niemals, Selten, Manchmal, Immer“ (im weiteren Verlauf mit „NSMI“ abgekürzt) hat bereits einen silbernen Bären und den „Dramatic Special Jury Award“ des Sundance Film Festivals gewonnen, doch es wäre sehr verwunderlich, wenn sich nicht noch mehr Preise anschließen würden.

Durch ungünstiges Timing (Release kurz bevor die Kinos schlossen, in Deutschland noch gar nicht) fliegt „NSMI“ viel zu sehr unter dem Radar, doch dies absolut unberechtigt, denn selten hat sich ein Film so ungeschminkt mit den Themen Abtreibung und sexueller Belästigung
auseinandergesetzt, wie dieser – was eigentlich bitter nötig wäre.


Niemals, Selten, Manchmal, Immer
„Niemals, Selten, Manchmal, Immer“ © Focus Features / Universal Pictures

Story:
Die 17-jährige Autumn (Sidney Flanigan) ist ein introvertiertes, von der Familie im Stich gelassenes Mädchen, das mehr oder weniger in den Tag hineinlebt. Ohne Freunde, abgesehen von ihrer Cousine Skylar (Talia Ryder), muss sie sich täglich sexistischen Äußerungen oder Demütigungen aus ihrem Umfeld ergeben. Unerwartet erfährt sie, dass sie schwanger geworden ist.

Da sie weder ihrer Familie davon erzählen noch das Kind behalten will, versucht sie zunächst das Kind selbst abzutreiben, was ihr jedoch misslingt. Da in Pennsylvania die Abtreibung im Alter von 17 nur mit elterlicher Erlaubnis durchgeführt werden kann, schlägt ihre Cousine, der sie sich anvertraut hat, vor, nach New York zu fahren, um die Abtreibung dort machen zu lassen. Mit wenig Geld machen sie sich dorthin auf und finden sich in einer für sie unbekannten Welt wieder.


Niemals, Selten, Manchmal, Immer
„Niemals, Selten, Manchmal, Immer“ © Focus Features / Universal Pictures

Film Kritik:

von Georg Reinke

Schwer verdauliches, aber notwendiges Thema

Gerade in Zeiten der MeToo Bewegung, dem Eppstein Skandal und weiteren
Missbrauchsenthüllungen berührt der Film etwas, was einem als Mann in diesem Ausmaß vielleicht gar nicht bewusst ist, nämlich, mit welcher Intensität Frauen mit sexueller Belästigung im Alltag konfrontiert werden.

Der Film hemmt sich nicht, dies in schwer verdaulicher Manier zu zeigen; die beiden (minderjährigen) Protagonistinnen müssen beispielsweise miterleben, wie ein Mann in der New Yorker Bahn seinen Penis vor den beiden rausholt, oder von einem älteren Mann gedrungen werden, zu einer privaten Party zu kommen. Die beiden Mädchen stecken dies indes jedes Mal gut weg, was auch davon zeugt, dass sie sich bereits mit ihrer männerdominierten Umwelt abgefunden haben. Sinnbildlich ist der junge Mann, den die Mädchen im Bus nach New York kennen lernen (Theodor Pellerin).

Er zählt sich zwar selbst scheinbar zu den Guten, doch wie alle Männer rund um Autumn und Skylar sieht er es als sein Naturell an, dass Frauen den Männern Zugeständnisse sexueller Basis machen müssen, um eine Gegenleistung zu erwarten. Er leiht den beiden Mädchen Geld, aber nur unter der Voraussetzung körperlicher Gefälligkeiten vonseiten Skylars.


Niemals, Selten, Manchmal, Immer
Sidney Flanigan als Autumn in „Niemals, Selten, Manchmal, Immer“ © Focus Features / Universal Pictures

Konsens aus Freud und Leid

Das einzig menschliche in dieser rauen Umgebung ist die schwesterliche Liebe zwischen den beiden Mädchen. Die Zuneigung zwischen ihnen wird wunderbar inszeniert, denn „NSMI“ scheint zu wissen, was es ist, nämlich ein primär visuelles Medium. Weder viele Dialoge noch ausufernde Exposition strapazieren den Film, ganz im Gegenteil.

Das Herz des Films ist die Symbolik und die unausgesprochene Verbundenheit zwischen Autumn und Skylar. Blicke und Gesten ersetzen ganze Konversationen, ein Händedruck oder das gemeinsame Schminken sagen zuweilen mehr als tausend Worte. Die Sicherheit, die sich die beiden Mädchen geben wirkt fast träumerisch natürlich, was in erster Linie den beiden großartigen schauspielerischen Leistungen geschuldet ist.

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Die Stille, die der Film dabei umgibt, wandert Hand in Hand mit der Einsamkeit der beiden Mädchen, die hin und wieder aufgebrochen, aber auch ebenso schnell wieder revidiert wird. Außerdem schafft es das Drehbuch, objektiv und wertfrei das Thema der Abtreibung anzugehen.


Niemals, Selten, Manchmal, Immer
Talia Ryder als Skylar in „Niemals, Selten, Manchmal, Immer“ © Focus Features / Universal Pictures

Weniger ist mehr

Moralische Instanz ist hierbei nicht ein gesellschaftlicher Diskurs, sondern die ausschließlich intrinsische Motivation Autumns. Diese wird linear und fast schon lethargisch von Flanigan präsentiert.

Sie ist es auch, die auf voller Linie in ihrer nuancenreichen Adaption eines schwer durch innere Konflikte zerrütteten Menschen überzeugt. Der titel gebende 4 Fragen Test vor der Abtreibung mit einer Sozialarbeiterin, ist einer der emotionalsten Momente des Films, denn das Leid, das Autumn in ihrem Leben erfahren hat, lässt sich eben nicht in 4 Sparten kategorisieren.

Ohne Worte repräsentiert die Szene die Unsagbarkeit, mit der viele Frauen und Mädchen in Berührung kommen, auch die Angst, über Missbräuche zu sprechen, da sie gesellschaftlich noch viel zu fest in perversem Selbstverständnis verankert sind. Der Test ist eine der tiefsten emotionalen Bestandsaufnahmen, die man seit langem im Kino sehen konnte.


Niemals, Selten, Manchmal, Immer
Sidney Flanigan in Niemals, Selten, Manchmal, Immer © Focus Features / Universal Pictures

Hittman beweist großes Feingefühl

Das Thema Abtreibung wird ebenfalls sorgfältig betrachtet. Es ist weder nur ein Plot-Device noch ein Aufruf zu einem moralischen Diskurs. Es geht vielmehr um den Prozess und um die einhergehenden Hindernisse, bzw. der klaren Positionierung, dass Frauen sehr wohl in der Lage sind, selbst über ihren Körper zu entscheiden.

Demonstranten vor der Klinik dienen dabei keiner wertgeladenen Auseinandersetzung bezüglich des Themas, sondern ist eine sachliche weltbezogene Beobachtung hinsichtlich zeitgeistiger Debatten über Abtreibungen. Feinfühlig erinnert Hittman aber auch an die Scham, die die Gesellschaft ( in Gestalt der dörflichen Ärztin, die Autumn angesichts der Schwangerschaftszeit anlügt) gegenüber einer selbstbestimmten Frau provoziert, sollte sie es wagen ihrer vermeintlichen Natürlichkeit zu widersprechen. Dabei radikalisiert sie aber niemals, wodurch alles in seiner Morbidität wie „normal“ wirkt.


Niemals, Selten, Manchmal, Immer © Focus Features / Universal Pictures

Fazit:

Selten hat ein Film derart offen und mit so viel Empathie das Verständnis für junge Frauen visualisiert, wie „Niemals, Selten, Manchmal, Immer“. Ohne Effekthascherei beschreibt Hittman das asymmetrische Verhältnis zwischen den Geschlechtern. Mit wenigen Worten wird dem Zuschauer die Eindringlichkeit einer frauenfeindlichen Umgebung gezeigt, ohne jedoch auch die Freuden des Jungseins aus dem Auge zu verlieren.

Auf der Gratwanderung zwischen Leid und Frohsinn pulsiert dabei stets das Bündnis der beiden Mädchen, welches mit viel Zärtlichkeit und Stärke den äußeren Gefahren widersteht. Auch wird sich dem Thema „Abtreibung“ so ehrlich und natürlich genähert, dass es keiner Bewertung von falsch oder richtig bedarf, sondern einzig dem Verständnis selbstbestimmten Handelns.

Dabei werden keine hollywood´schen Luftschlösser gebaut, sondern die nüchterne Betrachtung der (teils schwerwiegenden) Problematiken, die das Erwachsenwerden junger Frauen in einer männlich sexualisierten Welt aufbringen. Es bleibt zu hoffen, dass der Film nicht nur lange in Erinnerung bleibt, sondern auch Einblicke gewährt und festgefahrenen Vorstellungen entgegentritt.

Wertung: 8,5 / 10