Inhalt: Die enthusiastische Schneckensammlerin und Liebesromanleserin Grace Pudel erzählt rückblickend die Geschichte eines Lebens, das es nicht immer gut mit ihr gemeint hat. Nach dem Tod ihrer Mutter wachsen Grace und ihr Zwillingsbruder Gilbert bei ihrem querschnittsgelähmten, alkoholkranken Vater auf. Als auch dieser überraschend verstirbt, werden die Geschwister voneinander getrennt und in verschiedene Pflegefamilien gesteckt. Während Gilbert am anderen Ende von Australien den Grausamkeiten einer fanatisch-religiösen Familie ausgesetzt ist, zieht sich Grace immer mehr in ihr Inneres zurück – genau wie ihre geliebten Schnecken. Erst durch die Freundschaft mit Pinky, einer exzentrischen älteren Dame voller Lebensfreude, schöpft sie wieder Hoffnung und erkennt, wie schön das Leben trotz all seiner Härte sein kann.
Zwischen Sammeltrieb und der unermüdlichen Suche nach Zugehörigkeit
Memoiren einer Schnecke ist kein Biopic im eigentlichen Sinne – denn es porträtiert keine reale Figur. Und doch fühlt sich Graces Geschichte so ehrlich, so tief empfunden an, dass sie wirkt wie das animierte Memoir einer echten Person. Adam Elliots neuer Stop-Motion-Film erzählt von Kindheitstraumata und einem Leben, das gezeichnet ist von Verlust, Einsamkeit und der unermüdlichen Suche nach Zugehörigkeit. Erzählt wird das Ganze mit Liebe zum Detail – und einer Emotionalität, die unter die Haut geht.
Die Schneckensammlerin Grace, gesprochen von Succession-Star Sarah Snook, blickt zurück auf ihr gezeichnetes Leben – eine melancholische, aber nie selbst mitleidige Erzählung, getragen von Ernsthaftigkeit, schwarzem Humor und einer Formensprache, die ganz dem analogen Geist des Mediums treu bleibt. Grace wird bei der Geburt – gemeinsam mit ihrem Zwillingsbruder Gilbert (Kodi Smit-McPhee) – zur Halbwaise. Ihre Mutter stirbt im Kreißsaal, der Vater, ein alkoholkranker, ehemaliger Alleinunterhalter, stirbt ebenfalls. Die Kinder werden getrennt – eine Entscheidung, die Graces Leben in tiefe Einsamkeit stürzt.
Während Gilbert in eine grausame, religiös-fundamentalistische Pflegefamilie kommt, landet Grace bei desinteressierten Menschen, die sie vernachlässigen. Aus dieser emotionalen Kälte entwickelt sie eine Obsession: das Sammeln von Schnecken, Meerschweinchen, Erinnerungen – alles, was sie irgendwie kontrollieren kann. Der Schmerz bleibt jedoch. Und genau dieser Schmerz ist der Kitt, der Elliots Erzählung zusammenhält.

Schrullige Figuren mit Schmerzprofil
Es sind die Details, mit denen Memoiren einer Schnecke seine Figuren lebendig werden lässt. Pinky (Jacki Weaver), eine pensionierte Dame mit einer Biografie zwischen Supermarkt-Maskottchen und Tischtennispartien mit Fidel Castro, wird Graces wichtigste Bezugsperson. Grace verliebt sich in eine problematische Nachbarin, während Gilbert in seiner neuen Umgebung mit Pyromanie und Sexualität ringt. Es sind die kleinen Macken, die hier große Wirkung entfalten: Graces Therapeut ist ein Bastler zerbrochener Keramiken; ihr Umfeld gleicht einem Kuriositätenkabinett voller gebrochener Seelen – keine von ihnen als bloße Karikatur.
Die Dialoge sind pointiert, aber nie auf Pointen aus. Der Humor ist schwarz, trocken, aber immer menschlich. Es gibt keinen Zynismus, sondern Wärme – eine Wärme, die sich ihren Weg durch die karge Farbpalette aus Braun- und Schlammnuancen tastet. Adam Elliot übernimmt selbst das Produktionsdesign – und das sieht man. Graces Welt ist überfüllt mit handgefertigten Objekten, kuriosen Fundstücken und detailverliebten Requisiten. Alles ist analog, nichts computergeneriert – was Memoir Of A Snail zu einem Gegenentwurf zur glatten, berechneten Ästhetik vieler Animationsfilme macht.
Jeder Raum erzählt Geschichten. Jeder Gegenstand wirkt benutzt, bewahrt Erinnerungen, ist Teil von Graces Biografie. Ihre Schneckensammlung wird zum Sinnbild ihrer Sehnsucht nach Ordnung in einer chaotischen Welt. Auch die Figuren selbst sind liebevoll gestaltet: große, eiförmige Augen, die zu Tränenfluten fähig sind, drahtige Haare, faltige Haut, dünne Münder mit großer Ausdrucksstärke.

Ein Stop-Motion-Kunstwerk mit melancholischer Tiefe, verspielter Detailverliebtheit und emotionalem Nachhall
Elliot feiert hier das Unperfekte – visuell und inhaltlich. Was den Film besonders macht, ist seine Balance. Die Geschichte hätte leicht ins Sentimentale kippen können, doch Elliot hält dagegen. Er weiß, wann er seine Figuren leiden lassen muss – und wann sie sich kleinen Momenten der Freude hingeben dürfen. Der Soundtrack bleibt dezent, unterstützt, statt zu manipulieren. Die Erzählweise bleibt episodisch, aber nie beliebig. Anders als in klassischen Erzählungen gibt es keinen dramatischen Höhepunkt, sondern eine konstante Auseinandersetzung mit Verlust, Identität und der Kraft von Freundschaft.
Es sind die leisen, aber konsequent durchgezogenen emotionalen Bögen, die den Film tragen. Grace verändert sich – langsam, nachvollziehbar, glaubhaft. Ihre Resilienz ist keine Hollywood-Fassade, sondern ein vorsichtig wachsendes Pflänzchen, das sich durch die Risse im Beton ihres Lebens schiebt. Memoiren einer Schnecke ist ein leiser, aber kraftvoller Film, der nicht jedem gefallen wird – und genau das ist seine Stärke. Wer eine schrille Animationskomödie erwartet, wird enttäuscht.
Fazit: Wer bereit ist, sich auf ein düsteres, tiefgründiges und künstlerisch kompromissloses Werk einzulassen, wird belohnt mit einer der ungewöhnlichsten und berührenden Filmreisen des Jahres. Grace ist keine Heldin im klassischen Sinne, doch sie wächst einem ans Herz. Es ist ein Werk für Erwachsene, das sich traut, über Schmerz, Verlust, psychische Gesundheit und Außenseitertum zu sprechen, ohne belehrend zu sein. Es ist eine Hommage an die Menschlichkeit im Unperfekten – ein zutiefst bewegendes Stück Erzählkunst mit Ton, Draht, Knete und Seele.
Film Bewertung 10 / 10