Vom „One Take Shot“ zur virtuellen Welt
Anhand seines Films „Das Fenster zum Hof beleuchten wir im zweiten Teil des Hitchcock Special, seine unbewusstes VR- Experiment.
Die meisten Menschen kennen Alfred Hitchcock als Hollywoods „Master of Suspense“. Hier geht es zu unserem SPECIAL TEIL 1. Wenige Menschen wissen, dass Hitchcock auch ein lebenslanger Innovator war, der mit einer Reihe, bis dato bekannter, filmischer Techniken experimentierte.
Das lief von der Herstellung eines Films scheinbar in einer fortlaufenden Einstellung, wie er es 1948 in „Eine Leiche zum Dessert“ tat, bis zu den bahnbrechenden stereoskopischen Methoden, die er 1954 in 3-D „Bei Anruf Mord“ anwandte. Aber sein interessantestes Experiment, insbesondere für zeitgenössische Geschichtenerzähler, die sich der Herausforderung der VR stellen, ist der Mystery-Thriller „Das Fenster zum Hof“, den er später im Jahr 1954 veröffentlichte.
Das Fenster zum virtuellen Hof
In „Das Fenster zum Hof“ bestand Hitchcocks Experiment darin, eine komplexe Geschichte aus einer einzigen, festen Perspektive zu erzählen. Die Perspektive ist die des vorübergehend bewegungsunfähigen L.B. „Jeff“. Jeffries, der wegen eines gebrochenen Beines, das er sich bei der Aufnahme eines spektakulären Fotos eines entgegenkommenden Rennwagens zugezogen hatte, in seiner Wohnung festsitzt.
In Hitchcocks Experiment ist es der Kamera nie erlaubt, über Jeffs Wohnung hinauszugehen oder etwas zu sehen, was Jeff nicht gesehen haben könnte, solange er wach ist und in die richtige Richtung schaut. Auf diese Weise kam Hitchcock der festen Perspektive des VR-Betrachters zuvor.
Eine geheime, private Welt, in die wir blicken
In den letzten Jahren wurden viele der Probleme der Geschichtserzählung mit VR, der Art und Weise zugeschrieben, dass filmische Erzähltechniken nicht automatisch auf die virtuelle Realität übertragen werden.
Aber „Fenster zum Hof“ – zeigt uns, dass dies nicht der Fall sein muss. Wie wir gesehen haben, zeigt Hitchcocks Geschichte, dass eine feste Perspektive nicht unbedingt ein Hindernis für die Schaffung einer subtilen und fesselnden Geschichte ist – obwohl sie natürlich unweigerlich dazu führt, dass sich die Handlung etwas mehr theatralisch als filmisch anfühlt.
Aber Hitchcocks, sich abzeichnendes, VR-Experiment geht noch weiter. Sobald die Kamera so mit einer einzigen Perspektive identifiziert wird, tritt der dem Kino innewohnende Voyeurismus deutlicher zutage und wird tatsächlich zu einem Thema in Hitchcocks Geschichte selbst.
Voyeurismus als Cinematographie – Evolution
Die Entwicklung des Kinos (die Hitchcock selbst maßgeblich beeinflusst hatte) machte das Publikum zu unwissentlichen Voyeuren. Vom bequemen Kinosessel aus, versteckt in der Dunkelheit, nehmen wir eine privilegierte Position ein. Von wo aus wir alle möglichen Dinge beobachten können, die wir sonst nicht sehen würden. Es ist jedoch unangenehm, daran erinnert zu werden. „Das ist eine geheime, private Welt, in die Sie da draußen blicken“, erinnert uns Lieutenant Doyle im Film: „Menschen tun privat eine Menge Dinge, die sie in der Öffentlichkeit unmöglich erklären könnten.“
Aber natürlich wissen wir als konditionierte Kinobesucher, dass der ganze Spaß darin besteht, Dinge zu sehen, die wir vielleicht nicht sehen sollten. Und als Publikum wissen wir auch, dass Hitchcock immer auf der Seite der privaten „Schnüfflers“ steht und niemals, niemals auf der Seite des Polizisten. Wie könnte er nicht auf der Seite der Neugierigen stehen? Er widmete seine Karriere der Dramatisierung privater Handlungen, indem er sie öffentlichen, sogar lüsternen Blicken aussetzte.
Kann VR also die gleiche privilegierte Sichtweise schaffen, und tut sie das auch? Die explizite Positionierung eines Zuschauers in der tatsächlichen Szene ist die stärkste Innovation der VR. Aber diese Innovation enttäuscht auch rüde jeden, der erwartet, in der gleichen anonymen Bequemlichkeit zu sitzen wie der Kinobesucher.
Als Hitchcock uns zu Spannern degradierte
Sobald man das Gefühl hat, in der Szene präsent zu sein, werden alle möglichen anderen Gefühle aktiviert. Von Rausch über Steigerung des Selbstbewusstseins, bis hin zu diesem verschwitzten Kribbeln der Schuldgefühle. Was so ziemlich genau das ist, was Jeff fühlt, wenn er merkt, dass seine übertriebene Neugier ihn in eine Art Spanner verwandelt hat.
Das Verbrechen wird von ihm quasi gewollt: Er will aus seiner Entdeckung den größtmöglichen Genuß ziehen, sie zum Sinn seines Lebens machen. Das Verbrechen wird aber auch von uns, den Zuschauern, gewollt. Und wir haben vor nichts mehr Angst, als dass unsere Hoffnungen enttäuscht werden
Selbst dieses beunruhigende Gefühl, ist im Sinn von Hitchcocks Geschichte ausgenutzt worden. Die vielleicht dramatischste Szene des Films ist der Moment, in dem der mutmaßliche Mörder Lars Thorwald sieht, dass Lisa etwas über den Hof signalisiert. Sein Blick bewegt sich langsam von Lisa weg, folgt ihrer Geste, bis er direkt in die Kamera blickt, auf Jeff . Aber auch, weil wir Jeffs Perspektive teilen, direkt auf . . . uns, den Zuschauer.
Die Wirkung der Zuschauer Erkenntnis
Dieser Moment ist schockierend, nicht nur, weil wir uns bedroht fühlen. Sondern auch, weil wir uns schuldig fühlen. Entdeckt, gefangen, in die Szene hineingezogen zu werden. Wenn die Anwesenheit des Zuschauers erst einmal bekannt ist, kann seine Ohnmacht, in das Geschehen einzugreifen (sei es durch einige Meter oder durch die Breite eines Hofes getrennt), dramaturgisch ein mächtiger Faktor sein.
Wie bereits mehrfach erwähnt. Hitchcock ist in vieler Hinsicht seiner Zeit voraus gewesen. Mehr bewusst als wie in „Das Fenster zum Hof“ eher Unbewusst. Manche Begrifflichkeiten lassen sich einige Jahrzehnte später erst herleiten. Unbestritten bleibt der Quell der Inspiration, des Innovators. Der „Master of Suspense“ – Alfred Hitchcock.
Uns Zuschauer machte er zu dem, was das Kino anbietet: im dunkeln sitzende Voyeure in einer anonymen, scheinbar sicheren Umgebung. Heute ist, dank fortgeschrittener Technik, sogar eine virtuelles betreten der Szenerie möglich – ohne dabei selbst vor Ort zu sein. Danke „Avatare“ können wir weiter-spannen, mit der Anonymität fremder Namen.
Das geniale, ständige weiterdenken und Entwickeln eines Mannes, der uns 53 Filme schenkte. Filme, die wir als Zuschauer bei allem „höher, weiter, schneller“ schätzen – oder wieder zu schätzen lernen sollten.
Tipp: Sky Cinema Thriller bietet ab heute eine Hitchcock Special an.
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