ANEMONE

Inhalt: Das düstere und zugleich rätselhafte Familiendrama ANEMONE erzählt von den Brüdern Ray (Daniel Day-Lewis) und Jem (Sean Bean) Stoker, deren Kindheit von Gewalt, Strenge und religiösem Fanatismus geprägt war. Während Ray ein Leben im selbst gewählten Exil in einer einsamen Waldhütte führt, sucht Jem Halt in tiefem Glauben, seiner Partnerin Nessa (Samantha Morton) und dem Ziehsohn Brian (Samuel Bottomley). Als eine familiäre Krise die Brüder nach zwanzig Jahren der Stille erneut zusammenführt, sind sie gezwungen, sich schonungslos den Dämonen ihrer Vergangenheit zu stellen:  Verdrängte Geheimnisse kommen ans Licht, alte Wunden reißen auf, und die düstere Familiengeschichte entfaltet einen Sog, dem keiner von beiden sich entziehen kann.

© Universal Pictures Germany

Brüder im Sturm

Die Anemone ist eine fragile Pflanze, schön, aber empfindlich, sie schließt ihre Blüten, wenn der Sturm naht. Für eine Geschichte, die von Rückzug, Schuld und emotionaler Abgrenzung handelt, ist sie eine perfekte Metapher und zugleich ein ungewöhnlicher Titel. Mit Anemone legt Ronan Day-Lewis, Sohn des dreifachen Oscar®-Preisträgers Daniel Day-Lewis, ein bemerkenswert introspektives und reifes Regiedebüt vor.

Das Drehbuch, das Vater und Sohn gemeinsam verfassten, verwandelt familiäre Dynamiken in visuelle Dichtung, melancholisch, absurd, zärtlich und zugleich von einer stillen Wucht getragen. Was darf man von einem solchen Duo erwarten? Sicher keinen platten Humor, sondern emotional aufgeladene, psychologisch dichte Figuren und die Frage: Wie heilt man das, was zwischen Vätern und Söhnen gebrochen ist? Im Zentrum steht die zerrüttete Beziehung zweier Brüder: Ray Stoker (Daniel Day-Lewis) und Jem Stoker (Sean Bean).

Ihre gemeinsame Vergangenheit ist geprägt von Gewalt, religiösem Fanatismus und den unauslöschlichen Narben ihrer Kindheit. Zwanzig Jahre nach Rays Einsätzen während der nordirischen Unruhen lebt er abgeschottet in einer einsamen Waldhütte abseits der Zivilisation, zwischen Funkrauschen, Seewetterberichten und improvisierten Bastelprojekten.

Glauben, Gewalt und grotesker Humor

Sein Bruder Jem hat sich ein Leben aufgebaut, das nach außen hin stabil wirkt: Er ist tief gläubig, lebt mit Nessa (Samantha Morton), Rays ehemaliger Partnerin, zusammen und zieht Rays Sohn Brian (Samuel Bottomley) groß. Doch als eine familiäre Krise die beiden nach Jahrzehnten der Funkstille wieder zusammenführt, werden alte Wunden aufgerissen. Ronan Day-Lewis inszeniert ihr Wiedersehen als leise Explosion, Szenen, in denen Blicke mehr sagen als Worte. Der Film wagt es, die ersten Begegnungen nahezu ohne Dialoge zu gestalten, wodurch das Unausgesprochene Schmerz, Zorn und Scham greifbar wird.

In dieser wortlosen Spannung beginnt allmählich eine brüchige Wiederannäherung. Sean Bean überzeugt als innerlich zerrissener Jem, der in seiner Glaubenswelt nach Erlösung sucht, während Day-Lewis als Ray eine beeindruckende Bandbreite zwischen Wut, Verletzlichkeit und Sarkasmus zeigt. Thematisch kreist Anemone um Väter und Söhne, um den Einfluss von Erziehung und die Wiederholung von Gewalt physisch, psychologisch, spirituell. Day-Lewis jr. verwebt diese Schichten zu einer Meditation über Schuld und Gnade.

Doch bei aller Düsternis erlaubt sich der Film unerwartete Momente grotesker Komik: Gleich zu Beginn spinnt Ray eine ausufernde Anekdote über einen Priester und eine verhängnisvolle Guinness-Curry-Kombination, so bizarr, erschütternd wie urkomisch und in ihrer Wirkung fast wie eine Erlösung. Sie sichert sich mühelos einen Platz in der imaginären Best Off Liste der Daniel Day-Lewis Monologe. Diese Mischung aus poetischem Realismus und surrealem Humor zieht sich durch den gesamten Film.

Visuelle Poesie und leise Intensität

Ein Hagelsturm, ein geisterhaftes Tierwesen mit winzigem Schwanz, surreale Zeitlupentänze, die an Lynch erinnern. All das fügt sich zu einer Atmosphäre, die zwischen visuellem Traum und emotionaler Realität schwebt. Ronan Day-Lewis zeigt schon in seinem Erstling eine filmische Handschrift, die man sofort erkennt. Seine Kamera verharrt geduldig, sucht Gesichter, verweilt in Schatten, und findet Schönheit im Verfall. Auch wenn einige Drohnenaufnahmen der Baumkronen etwas zu sehr nach Kunsthochschule riechen, ist das visuelle Konzept des Films beeindruckend geschlossen.

Das Wechselspiel von Licht, Nebel und Bewegung formt eine melancholische Poesie, die das Unsichtbare das Schweigen, die Schuld sichtbar macht. Wenn die Handlung sich zwischen der verunsicherten Nessa und dem aufgewühlten Brian entfaltet, gerät die Geschichte manchmal ins Stocken. Doch sobald Ray im Mittelpunkt steht, zieht der Film an. Day-Lewis’ Präsenz füllt jeden Frame mal überlebensgroß und explosiv, mal zurückgenommen.

Er verleiht Ray eine Würde, die aus dem Schmerz geboren ist, und erinnert daran, dass Schauspiel, wenn es so ehrlich ist, beinahe spirituell wirken kann. Anemone ist eine eindringliche, tief emotionale Geschichte über Brüder, Väter und die unausweichliche Last der Familiengeschichte, erzählt von einem Vater und seinem Sohn durch die Kraft der Bilder, oft ohne viel Dialog.

Fazit: Es ist die Arbeit eines Regisseurs, der sich traut, die großen Themen mit poetischer Ruhe und groteskem Humor zu verbinden, und eines Schauspielers, der nach Jahren der Abwesenheit mit einem Paukenschlag zurückkehrt. Anemone ist eine kraftvolle Meditation über die Frage nach Schuld, Glauben und Vergebung, die mit viel Feingefühl inszeniert wurde und von der großartigen Leistung von Daniel Day-Lewis und der persönlichen Note von Ronan Day-Lewis getragen wird.

Film Bewertung 7 / 10