Genre: Horror | Großbritannien, 2021 | Laufzeit: ca. 84 min.
Regie: Prano Bailey-Bond | Mit: Niamh Algar, Michael Smiley, Nicholas Burns
Inhalt: Im England der Thatcher-Ära arbeitet Enid (Niamh Algar) als Zensorin: Sie prüft Filme auf extreme Inhalte, als die moralische Panik vor abscheulichen Videos auf dem Gipfel war. Allerdings gerät die Strenge, mit der Enid ihren Job ausübt, ins Wanken, als sie vom Verschwinden ihrer Schwester geradezu besessen wird.
Film Kritik
von Ilija Glavas
Censor ist eine düstere Liebeserklärung an die VHS Horror-Trash Klassiker der 70er und 80er Jahre
Man hat das Gefühl, Prano Bailey-Bond wurde geboren, um Horrorfilme zu drehen. Ein Streifzug durch ihre Kurzfilme und sogar Musikvideos offenbart ihre Faszination: das Unheimliche, das Dunkle, das Blutrünstige. Der erste Spielfilm, Censor, entstand aus Bailey-Bonds Kurzfilm Nasty. Aber es gibt einen entscheidenden Unterschied: Dieses Mal steht eine Frau im Mittelpunkt ihrer Geschichte.
Und Frauen werden in Video Nasty (Trash Horror Filme) regelmäßig gestalkt, vergewaltigt und/oder von einem unbekannten Angreifer an den Knöcheln gezerrt – wobei sich die Fingernägel verzweifelt in den Schlamm graben. Dies ist die Welt, in die Censor den Zuschauer gleich zu Beginn mit unscharfen Bildern und der unverkennbaren Textur eines Videobands entführt. Schnell befindet man sich in einem fensterlosen, verrauchten Raum, in dem zwei Zensoren den Film sezieren und Enid (Algar) ein Notizbuch bei sich trägt, auf dem steht: „Augen ausstechen – ist zu Realistisch“.
Zwar ist Enid keine konservative Aktivisten, wie es z.B. die Britin Mary Whitehouse war, aber mit ihrer zugeknöpften Bluse und der mit einer Kette befestigten Brille ist sie nicht weit davon entfernt. Ihr Antrieb, den Job als Zensorin zu machen, ist, so sagt sie zu ihrer Mutter, „die Menschen zu schützen“. Das Warum wird schnell klar: Sie war die letzte Person, die bei ihrer Schwester war, als diese im Kindesalter im Wald verschwand.
Der Kern der Geschichte handelt von einem Trauma
Im Film werden die folgenden Fragen aufgeworfen: Wie kann man, nachdem man so etwas erlebt hat, seinen Lebensunterhalt mit der Zensur von solchen Filmen verdienen? Wer würde sich den ganzen Tag lang Gewaltfilme ansehen, in denen Frauen so oft aufgeschlitzt werden? Eine Person, die versucht, das zu korrigieren, was sich ihrer Kontrolle entzieht? Oder, wie vorgeschlagen, jemand, der sich aus anderen, individuellen Gründen zu ihnen hingezogen fühlt, die wir vielleicht weniger schmackhaft finden?
All diese Fragen und die beiden scheinbar so unterschiedlichen Elemente in Enids Leben prallen aufeinander, als sie einen Film mit dem Titel „Deranged“ sieht, von dem die Presse behauptet, er habe einen Mann zum Mord an seiner Frau und seinen beiden Kindern inspiriert. Als Enid dann auch noch einen ekeligen Horrorfilm ansieht, von dem sie glaubt, dass er das Verschwinden ihrer Schwester nachahmt, geraten die Dinge vollends aus dem Ruder.
Das Entscheidende ist, dass es sich nicht um einen sozialkritischen Beitrag handelt, auch wenn Bailey-Bond den Film in einen bestimmten Kontext stellt. Zwar gibt es Schlagzeilen, Archivberichte und Politiker, die im Fernsehen posieren, aber Bailey-Bond lässt diese Analyse größtenteils unberührt – auch wenn sie deutliche Anklänge an die heutige Zeit aufweist.
Im Kern ist dies die Geschichte des Untergangs einer Frau und ihrem Kampf mit den Geistern ihrer Erinnerung. Es handelt von einem Trauma: Wie es sich manifestiert, wie es sich verändern kann und wie es letztlich zum Verhängnis werden kann.
Censor ist ein Film von einer Regisseurin, die das Genre liebt
Die ersten vier Phasen der Trauer – Verdrängung, Wut, innere Auseinandersetzung, Depression – sind bei Enid und ihren Eltern unterschiedlich ausgeprägt. Während ihre Eltern sich auf die fünfte und letzte Stufe der Akzeptanz zubewegen – und den Gedanken aufgreifen, ihre Tochter für tot zu erklären – wird Enid immer weiter abgetrieben und ihr Niedergang nimmt seinen Lauf.
Insofern handelt es sich eigentlich nur um eine Geschichte von Trauer und Verlust, verpackt in ein (Horror-) Genre. Hier kommt nicht nur Bailey-Bond zu ihrem großen Auftritt, sondern auch die großartige Niamh Algar spielt voll auf. Damit sind zwei Dinge klar: Censor ist ein Film von einer Regisseurin, die das Genre liebt. Die den Horror liebt, die Videobänder liebt, vor allem aber Video-Nasty-Filme.
Wenn die Realität mit der Fantasie verschmilzt, sich Formate vermischen und Seitenverhältnisse ändern – Hut ab vor der Kamerafrau Annika Summerson, wird das Medium, das Bailey-Bond erforscht, Teil der gestörten Welt, die sie geschaffen hat.
Fazit: Es ist keine Liebeserklärung an die Arbeit von Argento und Fulci, aber eine ernsthafte Auseinandersetzung mit ihrem Einfluss und ihrer Fantasie. Das zeigt sich in den Details, in der Besonderheit, in der fehlenden Wertung in Bailey-Bonds Betrachtung. Ein psychedelischer Fall ins Ungewisse, von einer der aufregendsten Horror-Regisseurinnen der Gegenwart.
Wertung: 7.5 / 10
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