Poster zum Musical Annette zeigt ein tanzendes Paar in einem Sturm auf hoher See

Produktion: Frankreich, Deutschland, Belgien 2021 | Genre: Musical | Romanze | Drama | Regie: Leos Carax | Drehbuch: Ron und Russell Mael | Mit: Marion Cotillard, Simon Helberg, Adam Driver u.a | Laufzeit: ca. 140 Minuten | FSK: Ab 12 Jahren | Erscheinungsdatum: 16. Dezember 2021 (Deutschland)


Inhalt: Der temperamentvolle Komiker Henry McHenry (Adam Driver) und die Opernsängerin Ann Defrasnoux (Marion Cotillard) sind verliebt, aber ihre Beziehung wird auf die Probe gestellt, als es mit seiner Karriere bergab und mit ihrer bergauf geht. Aber vielleicht kann ihre neugeborene Tochter Annette ihre Leidenschaft wieder entfachen. Allerdings ist das Kind aus Holz.

Trailer „Annette“ © Alamode Film

Wenn man eine Sache über Annette weiß, dann ist es wahrscheinlich, dass Adam Driver ein Liebeslied („We Love Each Other So Much“) für Marion Cotillard singt. Das passiert zwar zweimal, gehört aber trotzdem nicht zu den Top 5 der schrägsten Momente, die man in Leos Carax‘ wilder, durchgeknallter Phantasmagorie-Oper finden kann.

Annette ist anders als jeder andere Film im Jahr 2021 oder in irgendeinem anderen Jahr. Getrieben von den wahnwitzigen Rhythmen von Ron und Russell Mael, alias Sparks, und befeuert von Drivers unbändiger Energie, wird eine oft erzählte Geschichte über Showbiz-Leute, die von beruflicher Eifersucht geplagt werden, mit Witz, überzogenen Emotionen und einer gehörigen Portion cineastischem Esprit in die Luft geblasen.

Auch interessant: Die Autoren von Annette haben eine Biopic spendiert bekommen

Von Denis Lavant, der zu David Bowies „Modern Love“ in Mauvais Sang (Die Nacht ist jung von 1986) eine Pariser Straße hinuntersprintet – ein von Greta Gerwig in Frances Ha glorreich gehuldigter Moment – bis hin zu Kylie Minogues Song „Who We Were“ in Holy Motors von 2012: Carax‘ Filme enthalten in ihrer gesamten Film DNA eine Vielzahl von Songs. Jetzt kratzt der Filmemacher mit Annette endlich an einem Musikreiz, der ihn schon die ganze Zeit beschäftigt hat. Los geht’s mit einem wahren Paukenschlag.

Aufbauend auf der rasanten Vorstellung der Akteure in Holy Motors, lässt Carax mit „So May We Start“, einer typisch treibenden Mael-Komposition, seine Darsteller virtuos aus dem Studio nach Santa Monica marschieren und präsentiert dabei einen wahnwitzigen, selbstreflexiven Ohrwurm („The budget is large, but still it’s not enough“), der so gut ist, dass man befürchtet, der Film würde sich nie davon erholen. Wird er aber.

Ann (Marion Cotillard) ©Alamode Film

Griechischer Chor kündigt Tragödie an

Driver ist Henry McHenry, ein Stand-up-Comedian und Performance-Künstler, der in einem Bademantel über die Bühne läuft. Er ist ein wütendes Arschloch, ein Provokateur (von Driver gibt es einen besonderen Dank an Bill Burr und Chris Rock im Abspann), der Witze über Gaskammern und Selbstopferung macht, und dem das Publikum anfangs aus der Hand frisst.

Mit Ann Defrasnoux (Marion Cotillard), einer aufstrebenden Opernsängerin mit einem Vorliebe für rote Perücken und Windmaschinen, bildet er die eine Hälfte des ungewöhnlichen Power-Pärchens. Doch schon bald weichen Liebesgeplänkel und nächtliche Motorradfahrten der beruflich bedingten Missgunst und Eifersucht. Es folgen Wutausbrüchen im betrunkenen Zustand, Gewalttätigkeiten und #MeToo-würdige Vorwürfe, die allesamt von TMZ-artigen Meldungen in Form eines Griechischen Chors untermalt werden.

Da die Handlung die Merkmale eines „Blick-hinter-die-Bühne“-Musicals aufweist – der eine Star glänzt, der andere verblasst -, wirkt das Ganze zunächst konventioneller als das durchgeknallte Holy Motors (in dem übrigens der Sparks-Song „How Are You Getting Home?“ zu hören ist).

Selbstberliebtheit und der Kampf mit den eigenen Dämonen

Genau an dieser Stelle setzt Carax seinen Joker ein. Ann bringt Annette zur Welt, eine sprichwörtliche Chucky-eske Puppe, die mit der Gesangsstimme eines Engels gesegnet ist. Nach der Geburt des Holz-Sternchens stürzen sich Ann und Annette, in eine völlig neue Dimension des Wahnsinns.

Auch wenn er an die schicksalhafte Romantik früher Werke wie Boy Meets Girl und Die Liebenden von Pont-Neuf anknüpft – es gibt nur wenige Filmemacher, die den Schmerz einer verlorenen Liebe so ausgiebig thematisiert haben wie Carax -, ist Annette in Wirklichkeit ein Film darüber, wie die Liebe durch zügellosen (männlichen) Egoismus zum Scheitern verurteilt ist.

Die Folgen von Henrys Selbstverliebtheit, die sowohl der Antrieb für seine künstlerische Arbeit als auch seine persönliche Achillesferse ist, sitzen tief. Es ist einfach, Henry als ein Porträt des Künstlers zu sehen, und bei allem verrückten Firlefanz, der gezeigt wird, gibt es eine starke Aussagekraft in Annette, die einen Filmemacher beschreibt, der mit seinen Dämonen kämpft.

Henry (Adam Driver) und Ann (Marion Cotillard) ©Alamode Film

Schnitt und Bildgestaltung der Extraklasse

Seine Leidenschaft bringt Carax auf die Leinwand, wo er seinen gleichzeitig lyrischen und schrägen Stil auslebt. In enger Zusammenarbeit mit seiner Kamerafrau Caroline Champetier erschafft Carax eine völlig abgeschottete Welt mit beeindruckenden Szenen.

Diese reichen von einer Theaterbühne, die sich zu einem verwunschenen Wald entfaltet, über ein Boot, das in einen tobenden, rückprojizierten Sturm gerät, bis zum Stadion, in dem zehntausende Menschen den ersten Auftritt von Baby Annette feiern. Auch die Bildgestaltung scheint Carax geradezu nach Belieben zu variieren: Ein Moment, in dem Anns Begleiter (Simon Helberg) ausladende Dialoge führt, während er ein Orchester dirigiert, und die Kamera in Großaufnahme um ihn herum ausgefallene Runden dreht. Es gibt auch eine gewisse Dreistigkeit im Schnitt.

Während Henry und Anns gemeinsamem Cunnilingus setzt Carax einen dreisten Match-Cut ein, bei dem er vom vollmundigen Stöhnen beim Oralsex zum langanhaltenden Geburtsstöhnen übergeht, während Ärzte und Krankenschwestern im Chor „Einatmen! Ausatmen! Einatmen“ rufen !

Die Filmmmusik wird durchgehend singend vorgetragen

Es ist dieser Mut zur Verspieltheit und der Wunsch, etwas Anspruchsvolles (einen Opernstar) mit etwas Trashigem (einen Komiker) zu vermischen, dass Carax und Sparks zu solch erfolgreichen Partnern macht. Abgesehen von Henrys komödiantischen Einlagen gibt es in dem Film keine gesprochenen Worte, und die Film-Musik wird durchgesungen (man denke an Les Misérables).

Die Musik ist von einfachen Reimen durchzogen und setzt stark auf Wiederholungen, wobei oft Variationen ein und desselben Satzes („Six People Have Come Forward“, eine Stakkato-Hymne, die toxisches männliches Verhalten anprangert) hymnisch werden. Es ist hilfreich, dass beide Stars des Films musikalisch begabt sind, wie etwa Driver in Inside Llewyn Davis oder seine Interpretation von Being Alive“ in Marriage Story. Außerdem ist Cotillard im Musical Nine zu hören und hat eine eigene Musik-Karriere.

Die Lieder bewegen sich textlich zwischen unverschämt ehrlich, ironisch und bitterböse. Auch musikalisch reicht die Skala von düsterer Klassik bis zu wunderschönen Arien, von Minimalismus bis zu aggressiver Rockoper. Und wenn der Film seine große emotionale Ladung abwirft, entfernen die Autoren die Ironie, um uns etwas richtig Herzzerreißendes zu liefern.

Henry (Adam Driver) ©Alamode Film

Der Film gehört schauspielerisch Adam Driver

Eine Schwäche des Films ist Carax‘ völliges Desinteresse an Ann. Er bietet der großartigen Cotillard außerhalb ihrer Opernszenen kaum etwas, während das Drehbuch kaum Einblick in ihr Innenleben gewährt. In der zweiten Hälfte tritt zwar der exzellente Simon Helberg (Big Bang Theorie) als Anns Möchtegern-Geliebter mit Argwohn gegenüber Henry mehr in den Vordergrund, aber schauspielerisch gehört der Film Adam Driver.

Er ist wohl der markanteste Schauspieler, den man heutzutage sehen kann, und verleiht Henry McHenry eine solch entwaffnende Kraft und zerstörerische Intensität, dass es sich anfühlt, als würde man Magnolia’s Frank T.J. Mackey (Tom Cruise) sehen, wenn er denn eine Melodie singen könnte. Er ist der perfekte verzweifelte Liebhaber im Sinne von Carax. Man kann den Blick nicht von ihm abwenden, während er selbst ins Verderben starrt.

Fazit: „Annette“ ist der gelichzeitig verstörendste und originellste Film des Jahres 2021. Er ist ein unvergleichlicher Trip, ein mitreißender Walzer im Chaos. Man sollte sich den Film ansehen, da er wirklich hypnotische Filmkunst, eine Reihe großartiger Songs und Adam Driver in Bestform bietet. Film Bewertung 9 / 10